«In China hat man vor den Olympischen Spielen 2008 etwa eineinhalb Millionen Menschen vertrieben, weil man dort, wo sie wohnten und beheimatet waren, eine Sportanlage bauen wollte.» Man weiß nicht, weshalb sie dies erzählt. Niemand sprach gerade von derlei Dingen. Die Diskussion drehte sich um Banales und war eigentlich gar keine Diskussion, sondern ein unkoordiniertes Aufeinanderprallen von Worten und Sätzen. Man redete einfach. Vielleicht ertrug man das Schweigen nicht. «In China hat man etwa eineinhalb Millionen Menschen vertrieben, weil man dort, wo sie wohnten und beheimatet waren, eine Sportanlage für die Olympischen Spielen 2008 bauen wollte.» Nachdem sie es gesagt hat, sind alle still, verharren reglos, beinahe so, als wären sie heftig getadelt geworden. Man schaut sich ratlos um, die Augen suchen flehend nach Hilfe, doch niemand kann den Blicken eine Antwort geben. Irgendwann fragt einer, wie sie das denn meine, doch ihre Erwiderung ist lediglich die Wiederholung der Aussage. «In China hat man vor den Olympischen Spielen 2008 etwa eineinhalb Millionen Menschen vertrieben, weil man dort, wo sie wohnten und beheimatet waren, eine Sportanlage bauen wollte.» Jemand schiebt einen Stuhl nach hinten, steht auf, geht offensichtlich zur Toilette, kommt zurück. Die Ratlosigkeit sitzt noch am Tisch. Er setzt sich hin, lächelt gequält und fragt, worüber man gerade gesprochen habe. Bevor jemand auf dieses Bemühen um Lustigkeit zu reagieren vermag, sagt sie es erneut, ein kleines bisschen lauter als zuvor. «Vor den Olympischen Spielen 2008 hat man in China etwa eineinhalb Millionen Menschen vertrieben, weil man dort, wo sie wohnten und beheimatet waren, eine Sportanlage bauen wollte.» Man sitzt weiterhin, die Schultern verhärten sich zunehmend, man starrt aufmerksam auf die eigenen Finger, scheinbar in Erwartung, es würde sich dort etwas Außergewöhnliches ereignen. Die Situation wird allmählich unerträglich, immer deutlicher ist zu spüren, dass es nicht mehr lange so weitergehen kann. Doch kurz bevor jemand die Anwesenden tatsächlich aus der merkwürdigen Lage befreit, springt sie unvermittelt auf, steigt auf den Tisch und blickt sich um, mit nahezu glühender Wut in den Augen. Sie atmet tief ein, atmet langsam aus. Dann wirft sie den Kopf in den Nacken und beginnt ganz ruhig zu sprechen. «In China hat man vor den Olympischen Spielen 2008 etwa eineinhalb Millionen Menschen vertrieben, weil man dort, wo sie wohnten und beheimatet waren, eine Sportanlage bauen wollte.» Sie wartet noch eine Minute, steht reglos auf dem Tisch, schön und stark, wie ein Denkmal. Dann steigt sie hinab, schiebt den Stuhl an den Tisch und geht. Irgendwann beginnt jemand zu reden. Man kichert unsicher, schiebt Fragezeichen vor sich her. Später sagt jemand etwas von einem Sack Reis, und man lacht kurz und viel zu laut. Einen Moment lang fragt man sich, was man davon halten soll. Einen Moment lang fragt man sich, was mit den Menschen geschehen ist, die vertrieben wurden. Einen Moment lang fragt man sich, warum man sich nicht empört. Einen Moment lang fragt man sich, weshalb man auf dem Stuhl sitzt und nicht ebenfalls auf den Tisch steigt. Dann ist der Moment vorbei.

Wieder ein super Text!
Aber ich kann auch diese Situation der Ohnmacht gut nachvollziehen. Wir werden heute überflutet mit Nachrichten, die alle nach unserer Aufmerksamkeit, nach unseren Gefühlen und nach unserer Empörung verlangen… und uns trotzdem ohnmächtig zurücklassen, aber mit diesem nagenden Gefühl, doch etwas tun zu müssen, und wenn es nur heisst, eben etwas zu sagen.
LikeLike
Sehr treffend umschrieben, dieses allzu bekannte Gefühl, ja. Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
LikeLike
Mehr solcher Aktionen, die Menschen sind zu satt und selbstverliebt…
LikeLike
Das sind sie zweifellos, zumindest in unseren Breitengraden… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte. Und herzliche Grüsse…
LikeGefällt 1 Person
Ihr Ausspruch war mit Sicherheit richtig und so war es damals in 2008.
Ich wußte es nicht und frage mich jetzt, wieso es mich nicht wundert, kenn ich mich mit der chinesischen Mentalität doch gar nicht aus…und doch weiß ich um dieses seltsame Prestigeobjekt *Olympische Spiele* und es passt zu dem, was sich erkennen konnte in vielen Jahren.
Der Sport ist es eigentlich nicht oder ist er es doch?
Man (als Nation) muß sich in Erinnerung rufen,
man braucht die Aufmerksamkeit der Welt,
es stärkt den Markt,
es *öffnet* die unsichtbaren Grenzen.
Das Highlight aller Sportevents, nichts steht darüber, wer es hat, ist angesehen und weltoffen… scheinbar – und Opfer sind notwendig, ohne geht es halt nicht…Menschen?, wir haben doch so viele…
oh, verdammt, aber so ist es doch, lieber Disputnik, und wie gut hast Du es in Worte gefasst. Ein irre guter Text. Ich bin voller Hochachtung.
Herzliche Grüße von Bruni
LikeLike
Man könnte China 2008 auch mit Brasilien ersetzen, Südkorea, Russland, es ändern nur Orte und Zahlen…
Die Hochachtung gebe ich gern zurück, und ich danke dir ganz herzlich, liebe Bruni, für dein Lesen und deine Gedanken und Worte, hier und immer wieder. Danke. Und liebe Grüsse…
LikeGefällt 1 Person
Es hilft nur noch weg schauen und sein Leben leben… Dies hier und so vieles andere mehr, beweist mir das wieder und wieder.
LikeLike
Hilft wegschauen wirklich?
Lieben Dank dir fürs Lesen und für deinen Kommentar…
LikeLike
Nicht hinschauen hilft .. mir… Der Rest ist Don Quijote… Das kann ich nicht und mag ich nicht…
LikeLike
Das ist okay und dein gutes Recht, so wie es meines ist, anders drüber zu denken. So oder so lieben Dank dir…
LikeLike
Danke an Dich fürs aufschreiben und nichts für ungut.
LikeGefällt 1 Person
Danke, Disputnik, für diesen Beitrag. Ich habe das Gefühl, wir erleben derzeit so viele Ungeheuerlichkeiten, dass wir nicht mehr wissen, wo wir noch hinschauen sollen, um aufstehen zu müssen.
LikeLike
Nicht weg-, sondern eben hinschauen ist ja schon mal ein guter Anfang, irgendwie…. Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
LikeLike
Sehr stark. Ich wünschte mir bei Lesen, dass das reine Fiktion ist, dass es eben nicht diesen Lauf nimmt. Dass in der Realität doch noch jemand spricht. Hinterfragt. …
LikeLike
Ich weiss nicht; vielleicht wird auch zu viel gesprochen, zu viel gefragt, aber zu wenig zugehört, zu wenig getan…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
LikeLike