Auf einem Flohmarkt siehst du ein Gemälde, ein fürchterlich kitschiges Wasserfarbenbild, es zeigt eine klischeehafte Szene in Paris, mitsamt Metro-Schild und Eiffelturm im Hintergrund, und deine Lider drängen nach unten, um deine Augen vor dem Anblick zu beschützen, doch du wehrst dich, starrst noch einige Sekunde auf das entsetzliche Werk, nicht nur, weil das Hässliche seinen ganz eigenen Reiz hat, sondern auch, weil dich das Bild an etwas erinnert, oder besser, an jemanden, an eine Frau, die einmal in der Mitte deiner Welt zu Hause war und mittlerweile nicht einmal mehr latent präsent ist oder in der Peripherie herumgeistert, und jetzt, wo sie aufgrund des Wasserfarbenbildes wieder in deinen Gedanken auftaucht, bekundest du Mühe, die einzelnen Elemente ihres Gesichtes korrekt zusammenzufügen, die Augen haben keine Farbe, die Konturen wabern stetig, ohne dass du sie wirklich definieren kannst, da sind nur seltsame Fetzen, die der Lauf der Zeit von ihr übrig ließ; ein Oberschenkel in zerrissenen Jeans, eine Halskette aus Holzperlen, dicke Socken aus dunkelgrüner Wolle, ihre Haare, die über deinen Pullover fließen, während ihr Kopf auf deinem Bauch ruht, im Hintergrund der Eiffelturm, eine kleine Stoffpuppe, die sie stets dabeihatte, und zwischen all diesen Fetzen hängt ein eigenartiger Geruch, denn sie roch immer ein wenig merkwürdig, selbst wenn sie frisch aus der Dusche trat, erinnerte der Duft ihrer Haut ein wenig an alte Kleider, die in einem hölzernen Bauernschrank aufbewahrt wurden, und obwohl du jedes Mal leer schlucken musstest, sagtest du nichts, du wolltest sie ja nicht kränken, und einmal, als du sie zwischen ihren Beinen küsstest, warst du überrascht, wie ungewohnt angenehm der Duft war, doch schon beim nächsten Mal roch es auch dort wieder wie immer, und du küsstest sie lieber auf den Mund, der von Kräuterzigaretten und Früchtetee erzählte, während sich ihre mitunter verfilzten Haare wie wilde und wüste Angreifer ausbreiteten und dir dem Atem zu rauben drohten, und du weißt nicht, warum du all das liebtest, denn eigentlich hatte deine Nase in amourösen Angelegenheiten ein starkes Mitspracherecht, doch bei ihr nahmst du alles in Kauf, den eigenartigen Duft und die Räucherstäbchen, die Ratte in ihrer Wohnung und das stetige Schniefen, das sie nicht loszuwerden schien, du hörtest sogar Reggae mit ihr, obwohl du Reggae nicht ausstehen konntest, doch für sie warst du sogar bei einem Reggae-Konzert und tanztest, weil sie tanzte, und du warst in den wenigen Monaten, in denen ihr ein Paar wart, in fünf Städten mit ihr, was deine Ersparnisse ausradierte, ohne dir den kulturellen Reichtum jener Orte zu vermitteln, du warst mit ihr in Rom, du warst mit ihr in London, du warst mit ihr in Istanbul, du warst mit ihr in Budapest, doch die Städte brechen auseinander in deinem Kopf, die alten Gemäuer bröckeln und rieseln irgendwann als Sand durch das Gestänge des Zeitgerüstes, und von all den Bildern in deinem Innern bleibt vor allem jenes aus Paris, obwohl dir Paris noch mehr als die anderen Städte ziemlich zuwider war, du hattest eigentlich keine Lust auf Paris, aber sie wollte unbedingt hinfahren, ist schließlich die Stadt der Liebe, sagte sie, und da wolltest du dich nicht an Widerreden klammern, weil du fürchtetest, unromantisch und lieblos zu klingen, also seid ihr hin, zu viert, ihr zwei und zwei Freunde, die kein Paar waren, was zwar zu unterhaltsamen Gesprächen und Situationen führte, dem Ausflug aber jeden Anflug von Liebesurlaub jäh wieder austrieb, stattdessen spaziertet ihr ziellos durch die unzähligen Straßen der Stadt, und obwohl sich immer wieder Männer mit Baskenmützen und schwarzen Hosen auf ihren Fahrrädern, auf deren Gepäckträgern das obligatorische Baguette aus einer Einkaufstasche lugte, in deine Erinnerungen zu drängen versuchen, waren in Tat und Wahrheit keine solchen Bilderbuchoriginale zu sehen, sondern vor allem Touristen und enttäuschend normale Personen, und die Bistros waren zu teuer und nicht sonderlich gemütlich, die Stühle unbequem, der Eiffelturm war fest in japanischer Hand, aber ihr seid trotzdem hinaufgestiegen, und danach wart ihr in einem Park, lagt auf der Wiese und rauchtet Gras, ihr Kopf auf deinem Bauch, und einen Moment lang spürtest du dieses eigenartige Kribbeln, das so gar nicht zum Selbstverständnis eines erwachsenen Menschen passen mochte, eine beinahe kindliche Freude an der Gegenwart, und in jenem Augenblick erfüllte Paris das Versprechen, das ansonsten eine leere Hülle blieb, doch allzu rasch war das Kribbeln wieder einer Art Ruhepuls gewichen, und ein paar Monate später nahmt ihr Abschied voneinander, nach einer letzten Umarmung – in welcher du nochmals ihren merkwürdigen Geruch registriertest, der dich aber nicht mehr sonderlich irritierte – gingt ihr ganz ruhig auseinander und voneinander weg, in eigene und ziemlich entgegengesetzte Richtungen, die im Nachhinein die einzig möglichen Richtungen waren, und du fragst dich, wie weit du dich von dir selbst entfernt hast, um ihr nahe sein zu können, und du wunderst dich, ob man lieben kann, wenn man sich zu weit weg vom eigenen Ich befindet, oder ob man dort nur ein Bild malt, ein kitschiges Wasserfarbenbild, das irgendwann auf dem Flohmarkt der eigenen Geschichte landet.

…von atemberaubender Pracht!
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Vielen lieben Dank dir!
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De nada, lieber Schreibfreund,
ich hätte auch schreiben können: wie in einem Rausch geschrieben, Flow pur…
Liebe Morgengrüße vom Finbar
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Dann gleich nochmals vielen herzlichen Dank, lieber Finbar. Und beste Grüsse zurück…
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Eine starke Frage, lieber Disputnik.
Entfernt man sich dann, mehr oder weniger oder nähert man sich vielleicht mehr dem eigenen Ich an, als man es wahrhaben mag?
Kannte man das eigene Ich vielleicht noch nicht? Hätte man es gefunden, wäre man länger geblieben?
Oder hat eine Liebe mit dem eigenen Ich wenig zu tun, weniger als man es für möglich hält?
Sehr nachdenkliche Grüße von mir
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Ich weiss auch keine Antworten auf deine Fragen, liebe Bruni, aber mir scheint, dass man, wenn eine Liebe Bestand haben soll, zumindest in der Nähe seines eigenen Ichs bleiben sollte… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken und die nachdenklich machenden Fragen… Schönes Restwochenende dir…
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*lächel*, ja , das glaube ich eigentlich auch.
Aber es ist ein unbewusstes ich, über das man nicht nachdenken muss
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Da hast du wohl recht, liebe Bruni. Und häufig kommt das Nachdenken sowieso erst später… Schönen Sonntagabend dir und herzliche Grüsse…
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Wieder einmal sehr ausdrucksstark und fesselnd bis zum letzten Wort. Die Frage am Ende empfinde ich als sehr treffend.
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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