Sie wohnte im großen Backsteinhaus am Ende der Straße, in diesem unförmigen Brocken mit breiten Wänden und riesigen Fenstern. Hin und wieder sah er sie, wie sie auf hohen Schuhen über den Asphalt ging, ruhig und beinahe schwebend. Sie war schlank, ihr Rücken außergewöhnlich gerade, die hellen Haare flossen in sanften Wellen ihrem Gesicht entlang, und meistens trug sie eine Sonnenbrille, selbst dann, wenn der Himmel voller Wolken war. Sie war stets elegant gekleidet, in einer Gegend, in welcher man höchstens zu Hochzeiten oder Begräbnissen elegant gekleidet war. Doch an Hochzeiten und Begräbnissen sah man sie nie. Sie hatte ihren festen Platz im Gefüge, dort im großen Backsteinhaus am Ende der Straße, aber zur Nachbarschaft schien sie nicht zu gehören.
Er kannte ihren Namen und wusste, mit wem sie verheiratet war. Ihr Ehemann schien nur selten zu Hause zu sein, und da sie keine Kinder hatten, war sie die meiste Zeit allein in ihrem großen Haus. Sie war wohl etwa fünfzehn Jahre älter als er und fünfzehn Jahre jünger als seine Mutter. Mehr wusste er nicht über sie, hatte ihre Stimme nie gehört. Doch zwei Mal sah er sie nackt.
Er hatte Fußball gespielt und kam auf dem Weg nach Hause am großen Backsteinhaus vorbei, als er sie erblickte, dort oben am Fenster. Zunächst hatte er den Eindruck, eine Statue zu sehen, eine Schaufensterpuppe. Als er sie erkannte, blieb er stehen und duckte sich hinter ein kleines Gebüsch. Es war ein kühler Spätsommertag, zwischen den Bäumen hing klares Licht, hin und wieder drangen Sonnenstrahlen durch Wolkenlücken und gaben der Welt ihre Farben zurück, und inmitten dieser Szenerie stand sie, nackt und still und stolz, völlig unpassend, aber wunderschön. Ihr Kopf war leicht geneigt, ihr Blick schien sich in der Ferne zu verlieren. Vielleicht eine Minute lang starrte er sie an, studierte ihren Körper, ihre Brüste und den leicht gewölbten Bauch, und einen Moment lang glaubte er, die Weichheit der Haut zu erkennen. Dann wandte sie sich ab und war nicht mehr zu sehen. Bis zu jenem Tag hatte er nur seine Mutter und seine Schwester nackt gesehen. Doch die sahen ganz anders aus.
Das zweite Mal war an einem ungemein heißen Sommertag. Er war unterwegs zum Schwimmbad und nahm eine Abkürzung, die hinter dem Garten des großen Hauses verlief, in dem sie wohnte. Das Grundstück war von einer Hecke umgeben, und als er zwischen den Zweigen hindurchspähte, sah er sie, allein auf der Wiese. Sie zog gerade ihr Bikinioberteil aus und legte es vorsichtig auf einen Liegestuhl. Dann streifte sie auch ihr Höschen ab, und schließlich stand sie da, nackt und still und wunderschön. Er wusste nicht, was sie tat und warum. Sie stand einfach reglos auf der Wiese, wie eine Statue, als wäre die Zeit zum Stillstand gekommen. Er wagte kaum zu atmen. Als er einen Zweig zur Seite schieben wollte, schnellte dieser zurück, laut raschelnd. Sie zuckte zusammen und sah in seine Richtung. Er wusste nicht, ob sie ihn entdeckt hatte, dort hinter der Hecke. Sie blickte unbewegt, neigte dann den Kopf ein wenig zur Seite. Irgendwann drehte sie sich um und legte sich auf den Liegestuhl. Als sie die Augen geschlossen hatte, ging er vorsichtig weiter, wurde allmählich schneller und begann schließlich zu rennen.
Normalerweise liest er keine Todesanzeigen, doch als er für Malerarbeiten in seiner kleinen Wohnung den Boden mit Zeitungen vom Altpapierstapel auslegt, lässt er seinen Blick eher beiläufig über die Namen der Verstorbenen gleiten. Dann trifft er auf sie. Zuerst begreift er es nicht, erst allmählich wird die Tatsache greifbar. Er liest die wenigen Worte, staunt über deren Lieblosigkeit und Kühle. Ihr Name wirkt fremd, weit weg von jener Frau, die er zwei Mal nackt gesehen hatte.
Sie spielt keine wichtige Rolle in seinem Leben, sie ist nicht mehr als ein Bild, das Bild einer nackten Frau an der Wand seiner Erinnerungen, getüncht in das warme Braun der frühen Jahre. Trotzdem, als er ihren schwarz eingerahmten Namen in der Zeitung liest, verspürt er eine erdrückende Traurigkeit, die er sich nicht erklären kann. Er schließt die Augen und sieht sie, hinter dem Fenster des großen Backsteinhauses, nackt und still und stolz und wunderschön. Er ist überzeugt, dass damals hin und wieder Sonnenstrahlen durch Wolkenlücken drangen. Doch irgendwie bleibt das Bild nun merkwürdig grau, alle Farben scheinen der Welt entwichen. Er presst die Lider noch stärker zusammen und bemüht sich, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Irgendwann wendet sie sich ab, verschwindet aus dem Bild, und er öffnet die Augen. Er blickt auf ihren Namen, klammert sich an die Ecken der Buchstaben, vielleicht eine Minute lang, vielleicht auch länger. Dann legt er vorsichtig eine andere Zeitung darüber.

Tja, der Tod lauert überall…
Spannender Minivoyeurismus…
Liebe Winterregengrüße
vom Finbar
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Vielen Dank dir, lieber Finbar, und regnerische, aber umso herzlichere Grüsse zurück…
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was für ein trauriges und endgültiges Ende einer nie ausgesprochenen Erinnerung…
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Die Erinnerung ist ja ev. nicht zu Ende, trägt vielleicht nur ein etwas anderes Kleid… Liebe Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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*lächel* wie wäre es mit einer ebenso feinfühligen Fortsetzung?
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…vielleicht…?…mal sehen…
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Dir würde eine sehr feine Fortsetzung einfallen, da bin ich sicher
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Eine namenlose Sehnsucht mit Namen, irgendwo zwischen Mutter und Schwester, eine Quelle von Licht in wolkenschweren Tagen.
Spannender Text!
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Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte! Liebe Grüsse…
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Obsession, Verlust einer Fremdvertrauten und Fragezeichen…
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Mitunter sind mir Fragezeichen lieber als Ausrufezeichen…
Lieben Dank dir fürs Lesen und herzliche Grüsse…
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