Manchmal steht man vor einem Bild, und dieses Bild zeigt eine Zeit, und diese Zeit ist Vergangenheit, und alles, was von dieser Vergangenheit noch bleibt, ist dieses Bild, vor dem man steht. Es ist ein einfaches Bild, das ist es immer, selbst wenn es noch so kompliziert wirken mag, es ist lediglich eine gemusterte Fläche, ein festgehaltener Augenblick in zwei Dimensionen, nur lang und breit. All die anderen Dimensionen, die Tiefe und die Zeit und die Wärme, sie fehlen auf dem Bild, und das, was abgebildet ist, hat womöglich schon längst aufgehört zu existieren. Einstein und Gandhi und meine Großmutter und Mimi, das Meerschweinchen aus meiner Kindheit, sie alle sind nicht mehr. Wenn man das Bild eines Waschbeckens an die Wand hängt, kann man es nicht benutzen; ganz egal, wie groß und wie schön das Bild des Waschbeckens ist, die Hände werden trotzdem nicht sauber, der Dreck bleibt unter den Fingernägeln. Und wenn man ein Foto einer lieben Freundin in diesen schmutzigen Fingern hält, weiß man um die Liebe, man weiß um die Freundschaft, man weiß um die Größe, doch man weiß auch, dass dieses Bild keine Toten zum Leben erwecken kann. Dieses Bild, es ist so schön wie schmerzhaft, es ist Wahrheit und Lüge zugleich. Dieses Bild zeigt eine Zeit, und diese Zeit ist abgelaufen. Natürlich sind da Erinnerungen, sogar wunderschöne Erinnerungen, man erinnert sich an wunderschöne Momente mit wunderschönen Menschen, doch irgendwann verlieren diese wunderschönen Menschen vielleicht alles Wunderschöne und Menschliche, werden zu unschönen Erfahrungen, oder die wunderschönen Erinnerungen beginnen einfach zu welken, wie die Nelken in der Vase. Man könnte frisches Wasser in die Vase füllen, doch eigentlich sind Schnittblumen nur noch Überreste eines Lebens, mit letzten Zuckungen vor dem Zerfall, und sowieso fließt kein Wasser in das Waschbecken auf dem Bild an der Wand. Es ist ein Trost, wenn da Fotos sind von blühenden Blumen auf weiten Feldern, jedes Bild kann ein Trost sein, und man muss sich wohl ein Bild machen, um sich überhaupt erinnern zu können, selbst wenn das Bild nur im Kopf an der Wand hängt. Und dieses Bild, es ist so schön wie schmerzhaft, es ist Wahrheit und Lüge zugleich. Dieses Bild zeigt eine Zeit, und diese Zeit ist abgelaufen. Aber zumindest war sie da.

Lieber Disputnik,
ein mich tief beeindruckendes Prosapoem
von hervorragender Mono No Aware Qualität,
sogar mit jenem eingebetteten Hauch von Okashi,
den es braucht, um ein Schriftstück wie dieses
zauberschön abzurunden…
…danke dafür und hab einen schönen Tag,
Finbar
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Vielen herzlichen Dank dir, lieber Finbar, für dein Lesen aus japanischem Blickwinkel und für deine Worte…
Dir ebenfalls einen wunderbaren Tag und liebe Grüsse…
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Kann momentan nicht alles lesen und müsste wählerischer sein, was ja keiner vorher wissen kann, das solltest du lesen und das, so muss ich mich auf gut Glück verlassen, den rechten Ausschnitt zu erwischen beim Vorbei-Lesen. Kürze ist dabei von Vorteil. Ein Bild, aus Worten, im Augenblick erhascht und stelle dankbar fest, vollkommen, das nicht, ich mag die zwei Zeilen von Wahrheit und Lüge auch nicht so sehr, sie legen mir zu viel hinein, aber es ist angenehm zu lesen, es kurbelt da oben was an. Es ist klar, ohne seicht zu sein. Sie finden die Worte und haben Gedanken dabei.
Und ich finde, manchmal, die Zeit, es zu lesen. Vielen Dank und freundlichst
Ihr Herr Hund
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Ach, ob mit Wahrheit oder Lüge, oder eben ohne, ob in Realitäten oder Illusionen, es ist schön, dass Sie die Zeit gefunden haben, um zu lesen, verehrter Herr Hund (und ich kenn’s nur zu gut, das Fehlen derselben). Herzlichsten Dank dafür und freundlichste Grüsse…
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So ein tiefgreifender, wunderschöner Text mit einigen berührenden Allegorien. Ich mag das sehr. Herzliche Grüße, Sylvia
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Das freut mich sehr! Vielen lieben Dank fürs Lesen und Mögen und die Worte, und herzliche Grüsse zurück…
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Das Bild im Kopf, von lange oder erst kurz vergangener Zeit, das eine Szene zeigt, einen Auschnitt, einen Moment, den es mal gab, früher als jetzt, doch immer noch wahr…
Lüge, weil es nicht mehr Existentes zeigt, lieber Disputnik? Nein, würde ich sagen, keine Lüge, es sei denn, es gab damals eine Lüge in uns und um uns herum, keine Lüge, weil es zeigt, was einmal Realität war, was eine Zeitlang Bestand hatte, bevor die Zeit es auflöste.
Eine Lüge, weil uns das Bild suggeriert, wir könnten wieder in dieses Bild hineinspringen, dort wieder anknüpfen? Eine interessante Idee, eine Fatamorgana aus der Vergangenheit also…
Ein Text, der wieder mal, wie so viele Deiner Texte, sehr nachdenklich macht
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Vielen herzlichen Dank für dein Lesen und für deine Gedanken, liebe Bruni… Natürlich ist der Begriff „Lüge“ nicht vollkommen passend, wie auch „Wahrheit“ nicht passend ist. Die Definitionen sind schwierig, vor allem wohl bei Bildern im Kopf…
Nochmals lieben Dank und beste Grüsse…
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