Zuerst glaubt er, ein leises Rauschen zu hören, als würde Luft aus einem Fahrradreifen entweichen. Es kommt nicht von draußen, es ist nur in seinem Kopf, denn wenn der Mann die Handflächen fest auf seine großen Ohren drückt, bleibt das Geräusch unverändert. Er wird ein wenig unruhig, blickt sich vorsichtig um, doch die anderen Passagiere im Bus wirken unbeeindruckt und starren unentwegt aus den großflächigen Fenstern auf die trübe vorüberziehende Welt. Plötzlich knackt es in den alten Kunststofflautsprechern an der Decke, und wahrscheinlich weiß der Mann bereits in diesem Moment, was nun folgen wird. Nach einem kurzen Räuspern dröhnt die sonore Stimme des Busfahrers aus den Lautsprechern. Man sei nun nicht mehr weit von der Endstation entfernt, es werde nicht mehr lange dauern, bis man sie erreiche. Man könne sich sicher sein, dass alles getan werde, um den verbleibenden Rest der Reise so angenehm wie möglich zu gestalten.
Nach einem erneuten Knacken bleibt der Lautsprecher stumm. Der Mann schaut mit glasigen Augen aus dem Fenster, weicht den Blicken der anderen Passagiere aus und wagt nicht, sich zu rühren. Noch einmal presst er seine Hände auf die Ohrmuscheln. Das Rauschen ist noch da, es ist stärker geworden. Er schließt seine Augen, die Lider zittern. Nach einigen Sekunden öffnet er sie wieder, reckt seine Hand ruckartig nach oben und drückt einen Knopf, der einen Klingelton auslöst. Er wolle nun aussteigen, ruft der Mann in die leise atmende Menschenmenge im Bus. Einige protestierende Stimmen flammen auf, doch er lässt sich nicht umstimmen. Er sei nun schon lange genug auf diesem Sessel gehockt, er sei müde, er müsse raus. Den restlichen Weg gehe er zu Fuß, man solle sich keine Sorgen machen, es sei schon in Ordnung so. Ein wenig ruckelnd kommt der Bus zum Stillstand, die Türen öffnen sich schnaufend, und der Mann steigt aus.
Nachdem der Bus weitergefahren ist, blickt sich der Mann um. Man hat ihn an einer ehemaligen Raststätte aussteigen lassen, ein unförmiger Klotz aus Beton und Metall steht in der Mitte einer großen Asphaltfläche, an deren Seiten unzählige Parkfelder aufgereiht sind. Nach einem kleinen Wiesenstück wird die Landschaft von dichtem Nebel verschlungen, dahinter scheint keine Welt mehr zu existieren. Einen Moment lang zweifelt der Mann daran, ob es richtig war, den Bus schon vor der Endstation zu verlassen. Vielleicht hätte er sitzen bleiben sollen, hätte warten sollen, bis die Fahrt zu Ende ist. Doch eigentlich ist er sich ziemlich sicher, dass nichts mehr kommen wird, wofür sich das Ausharren lohnt. Er setzt sich auf eine ziemlich marode Holzbank vor dem baufälligen Gebäude, lässt die Lider über die Augäpfel fallen und verfolgt gebannt den Film seiner Erinnerungen. Da sind trübe und stille Szenen, dann wieder Situationen, die vor lauter Farben und Klängen beinahe aus den Nähten platzen. Da sind Körper und Gesichter, Fragmente von Menschen, die er sogar an ihrem Geruch erkennen würde. Da sind Flüsse und Seen, das Meer, da sind Orte und Wege. Da ist Blut im Taschentuch, da sind Tränen auf faltiger Haut. Da sind überfüllte Räume und leere Betten, da sind rauschende Feste mit Wein und salzigem Gebäck. Da ist so viel in diesem Film, dass selbst die vereinzelten Leerstellen nicht ins Gewicht fallen. Irgendwann scheint das Bild zu erstarren, es zeigt lediglich einen Parkplatz und ein Wiesenstück, das sich im Nebel verliert. Der Mann schlägt die Augen auf und blinzelt in das helle Grau. An einer Stelle, an welcher die Parkfelder einen Winkel bilden, hat jemand einen Baum gepflanzt. Er ist noch jung, ein wenig krumm, aber er steht da, kahl und klar und mutig. Des Mannes Lippen zucken leicht, und er spürt sein eigenes Lächeln im Innern. In der Ferne fahren Autos und Busse über die Straßen, doch er hört sie kaum. Da ist nur ein leises Rauschen, als würde Luft aus einem Fahrradreifen entweichen. Dann wird alles still.

Hoffnungslos scheint er und erträgt die Menschen um sich herum nicht mehr, obwohl er diesen Versuch machte.
Jetzt reicht es, er will weg von allen diesen leise vor sich hinatmenden…
Und in der Stille, die er dann findet, sieht er etwas, was in ihm eine leise Hoffnung keimen läßt, etwas junges, ein Bäumchen, eines, das nicht hoch aufstrebt, sondern auch ein wenig so, als wüßte es, was das Leben auch für einen Baum bringen kann – Schmerzen und Leid – und doch auch diese Freude auf Licht und Leben
LikeGefällt 1 Person
Vielleicht, wenn da keine Hoffnung mehr ist, nicht mehr sein kann, vielleicht ist es dann gut, etwas anderes zu finden, Erinnerungen vielleicht, oder eben ein kleines Bäumchen… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni, und schönes Wochenende dir…
LikeGefällt 1 Person
Nach dem Lesen wird es innen still. Am Ende schleicht sich ein Gefühl ein…dem Mann könne etwas widerfahren sein, es bleibt ein ungewisses Gefühl.
Dabei ist der kleine krumme Baum ein so großer Hoffnungsträger, dass es ihm gelingt, einem gelebten Leben ein junges Lächeln abzugewinnen. Mit einer Zukunft im Herzen lächelnd abzutreten, klingt wie das ewige Rauschen, endlich abgestellt.
Gern gelesen, Genuss pur.
Liebe Grüße von der
Karfunkelfee
LikeGefällt 1 Person
Freut mich sehr, dass dir der Text gefällt, und dass dich auch das Lächeln am Ende, trotz eben diesem Ende, dich vielleicht sogar ein wenig freut…
Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deinen Worte, und liebe Grüsse zurück…
LikeGefällt 2 Personen