Am Wegesrand liegt ein Mann, nicht jung, nicht alt, vielleicht nicht einmal echt. An beiden Händen sind jeweils nur vier Finger, wie bei Comicfiguren, überhaupt ist er sehr einfach gezeichnet, rudimentäre Züge in einem banalen Gesicht. Man tritt zu ihm hin, fragt ihn, ob alles in Ordnung sei und warum er denn hier liege. Er sagt nichts, blickt lediglich konsterniert zum Himmel. Man fragt noch einmal, berührt ihn sogar am Unterarm, doch der Mann grummelt nur entnervt. Mit zuckenden Schultern wendet man sich ab und geht weiter. Nach einigen Schritten hört man ein Geräusch hinter sich, dreht sich um und kann gerade noch dem großen Stein ausweichen, den der mittlerweile auf wackligen Beinen stehende Mann geworfen hat. Wütend brüllt man ihn an, fragt ihn, was das eigentlich soll, ob er einen Knall habe. Der Mann schreit, bis sein Gesicht ganz rot ist, dann spuckt er einen schleimigen Klumpen auf den Boden. Schließlich muss er husten und legt sich wieder hin.
Ein kleines Kind fragt, warum böse Menschen böse sind, und natürlich hat man keine Antwort, zumindest nicht die richtige. Vielleicht verliert man sich in stundenlangen Ausführungen über die Natur des Menschen und gestörte Synapsen, vielleicht versucht man es mit Märchen, vielleicht mit Metaphern, vielleicht zuckt man einfach mit den Schultern und erklärt, dass es ist, wie es ist. Und vielleicht sagt man, dass es daran liegt, dass manche Menschen nur vier Finger haben. Bei vier Fingern kann es keinen Mittelfinger geben, und all das, was der Mittelfinger bei anderen Menschen als Ventil nach außen lässt, all die Wut und der Zorn und die Angst und die Gefühle, all das kann bei Menschen mit vier Fingern nicht entweichen. Und irgendwann entlädt sich das Ganze, wird zu einem schleimigen Klumpen im Innern, der sich kaum mehr lösen lässt.
Am Ende hält man die kalte Hand, betrachtet die erstarrten Finger, knochig und krumm. Die Furchen in der Haut, die trockenen Stellen, die nie verheilten Risse an den Knöcheln, sie erzählen eine Geschichte, die kaum Worte kennt. Man stellt sich eine Comicfigur vor, die ohne Sprechblasen durch ein Leben tappt und sich schlecht festhalten kann, weil immer ein Finger fehlt. Doch bei genauem Hinschauen erkennt man, dass da durchaus noch ein fünfter Finger ist, an beiden Händen. Nur angedeutet zwar, nur knapp skizziert, kaum sichtbar. Aber doch vorhanden. Es wäre zu schön und wohl auch zu einfach gewesen, die Antwort in den Fingern zu finden.

Dieses Thema war, oder besser ist sehr gut überlegt, mit Gefühl führ einen Mitmenschen, verloren und verlassen, eine gute Beobachtung, beschrieben in klarer Schrift.
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Vielen herzlichen Dank fürs Lesen und für die wunderbar freundlichen Worte.
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Sehr schön geschrieben und eine wahre Freude für mich. Danke! Liebe Grüße, Sylvia
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Deine Freude freut mich sehr… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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