Womöglich spielt es keine Rolle, wann es begann und weshalb. Die Details verlieren zunehmend an Relevanz. Im Vergleich zum Aufbau, zur Formung verläuft der Zerfall meistens in größeren Stücken, in groben Brocken, die sich lösen und zu Boden stürzen, häufig stumm und kaum bemerkt.
Hin und wieder blättern sie in den alten Fotoalben auf der Suche nach der verlorenen Zeit, doch sie finden lediglich neue Leerstellen. Manchmal zeigt er mit zitterndem Finger auf das Bild eines Mannes und fragt, wer das sei. Zu Beginn glaubte sie, er mache Witze. Mittlerweile ist ihr bewusst, dass er es tatsächlich nicht weiß. Und vielleicht bemerkt er die tiefe Traurigkeit in ihren Augen, doch er kann nicht darauf reagieren. Bisweilen folgt dann einer der alten Späße, die schon damals nicht sonderlich lustig waren und heute seltsam fremd wirken. Oft sagt er auch, er habe Hunger. Und isst trotzdem nichts.
Bei den sporadischen Besuchen schaut man immer häufiger auf den Boden. Er scheint durchzuhängen, als vermöge er das Gewicht nicht mehr zu ertragen, obschon sie beide jedes Mal noch schmaler und schmächtiger wirken. Die Zimmerpflanzen auf dem Gestell trocknen langsam aus, verlieren ihre Blätter. Die Welt wird staubiger.
Allzu oft ist es so, dass etwas erst auffällt, wenn es keine Umkehr mehr gibt. Man bäumt sich auf, gegen die eigene Machtlosigkeit, gegen die Taubheit in den Fingern. Wenn es ihn gibt, den Zahn der Zeit, dann trägt er Gift in sich, und wenn das Leben zubeißt, dringt das Gift garstig ins Blut und in jeden Winkel, breitet sich aus. Bisweilen, wenn sie husten, kann man es riechen, das Gift, wie es bitter in der Luft hängt. Und manchmal brennt es ziemlich heftig in den Augen.

Es ist wie ein scheibchenweises Abschiednehmen von einem Menschen, der einst so viel Leben verbreitete, im Leben stand und jetzt nichts mehr richtig mit sich anzufangen weiß. Und wenn dieser Mensch, die eigene Mutter ist, verkeilen sich die immer neu auftauchenden Schreckensmomente in der Seele.Aber man ist froh und dankbar für alles was noch geht und machbar ist. Der Erinnerungsdieb kann zwar Worte und Puzzleteile aus dem Gedächtnis stehlen, aber die Emotionen bleiben.Hoffentlich.
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Du hast dieses Gefühlsgemisch von Traurigkeit und Dankbarkeit sehr schön umschrieben… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Der Zahn der Zeit, die Zeit des Verfalls, wie geschickt hast Du sie beschrieben, lieber Disputnik.
Langsam aber sicher beginnt er zu knabbern, lange Zeit kaum bemerkbar, aber irgendwann machen sich die verschiedenen Zipperlein deutlicher bemerkbar und wenn sich eine Demenz einschleicht, dann wird es gemein…
Ich finde, das habern wir nicht verdient, aber keiner fragt uns: Möchtest Du eine kleine Demenz zum Dessert odert evtl. als Vorspeise schon?
Dann könnten wir ja dankend ablehnen, aber nix da, sie kommt einfach, ungefragt und ungebeten u. dann dürfen wir uns mit ihr herumschlagen,. Eine miese Geschichte kann das Alter sein und wohl dem, der ein gutes Alter in körperlicher und geistiger Frische erreicht.
LG von Bruni
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Nein, man kann weder das Altwerden noch das Vergessen verhindern, kann der Zeit nicht ausweichen, da hast du Recht… (Obwohl, die Vorstellung, was wäre, wenn man könnte, ist kaum weniger furchteinflössend…)
Herzlichen Dank dir, liebe Bruni, und beste Grüsse zurück…
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Dann hätten wir etwas anderes, was vermutlich nicht gut wäre, waS ich mir lieber nicht vorstelle…
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Der Zahn der Zeit wird immer giftiger,
lieber Disputnik, je länger der einzelne Mensch lebt…
Und am Ende des Lebens ist er der Giftspritze zum Tode durchaus ähnlich…
Liebe Grüße vom Finbar
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Bleibt zu hoffen, dass man sich des schleichenden Giftes möglichst lange erwehren kann… Vielen lieben Dank für deine Worte, und herzliche Grüsse zurück…
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…na ja, die Zeit vergeht für alle von uns ganz genau gleich schnell…
Und egal, ob wir uns wehren oder nicht, irgendwann ist Sense…
dann kommt der Sensenmann halt, ob mit oder ohne Gift!
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Ja, die Sense können wir (zum Glück) (noch) nicht verhindern… Aber wir können zumindest die Zeit bis dahin so gut wie möglich nutzen… Liebe Grüsse…
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Das klingt gut, lieber Schreibfreund, allerdings ist der gesellschaftliche Rahmen dafür ungeeignet…
Herzlich, Finbar
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Dann muss man eben hin und wieder aus dem Rahmen fallen…
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…für einen normal arbeitenden Menschen ein schier unmögliches Unterfangen…
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Wie eigentlich immer ein großer Text. Du Gefühlsschmied du.
Derzeit bekomme ich es hautnah mit, wie die Erinnerungswelt meiner Nachbarin sich täglich mehr verflüchtigt, ihr Blick immer erstaunter
wird. Manchmal kennt sie ihren eigenen Hund an der Leine nicht mehr. Doch noch wohnt sie mit ihm in ihrem kleinen Häuschen um die Ecke…
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Hmmja, das Verflüchtigen und Entgleiten… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen, für deine Gedanken und die Worte…
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Ich lernte Demenzkranke kennen, denen die Namen ihrer Kinder und die eigenen Namen längst entfallen waren wie Brotkrumenspuren von Vögeln gefressen. Sie träumten Ofenfeuer und Knusperhexen.
Toller Text.
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Das Vergessen kann schrecklich sein… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen, für deine Gedanken und Worte!
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