Als sie ein Kind war, sprach ein alter Mann im Religionsunterricht von Vergebung. Sie schaute aus dem Fenster auf die kleine Wiese vor dem Schulhaus. Dort stand ein Baum, und auf dem Baum saß ein Vogel, und der Vogel sang ein Lied, und obwohl sie es nicht hören konnte, wusste sie, wie es klang. Sie blickte wieder auf den alten Mann, der mit sonorer Stimme unaufhörlich auf die Kinder einredete, und verstand nicht, wovon er sprach.
In der Zeitung liest sie von einer Mutter, die den Mörder ihrer Tochter im Gefängnis besuchte, ein langes Gespräch mit ihm führte und schließlich seiner flehentlichen Bitte um Vergebung entsprach. Sie schüttelt den Kopf und lässt die Zeitung auf den Tisch fallen. Irgendwann nimmt sie eine Tasse zur Hand, führt sie zum Mund und zuckt dann zusammen. Der Kaffee ist längst kalt geworden.
Würde sie vergeben wollen, müsste sie sich von ihren eigenen Emotionen entfernen. Und sich damit von sich selbst distanzieren. Doch eigentlich ist sie schon viel zu weit weg. Manchmal spürt sie ihre eigene Körperwärme nicht mehr. Einen weiteren Schritt hinaus in die Kälte will sie nicht wagen. Wahrscheinlich gäbe es unter ihrer Haut nicht mehr viel zu verlieren. Trotzdem hält sie sich daran fest.
Sie denkt an den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche und die Übergriffe an der Odenwaldschule, an den Holocaust und die Apartheid, die unzähligen Massaker in den Überschriften und den Fußnoten der Geschichtsbücher, und immer beginnt irgendwann irgendjemand vom Vergeben zu reden, von Versöhnung. Wenn sie dies hört, spürt sie das Pulsieren der Ader am Hals. Draußen auf dem Baum sitzt ein Vogel und singt ein Lied.
Sein Gesicht ist immer da, und wenn es möglich wäre, ihm zu begegnen, sie wüsste nicht, wie sie sich verhalten würde. Wenn sie ihn mit seiner Schuld konfrontieren würde, wäre das Rauschen in ihren Ohren wohl zu laut, um seine Entgegnungen zu hören. Vielleicht würde sie mit bloßen Armen das unsichere Grinsen aus seinem Gesicht prügeln, bis nur noch ein blutiger Brei übrig bliebe. Vielleicht würde sie stumm weinen. Aber die Hand zu reichen, dazu wäre sie nicht in der Lage.
Sie macht sich eine neue Tasse Kaffee, verbrennt sich den Mund, legt sich ins Bett, zieht die Decke über die Brust. Sie denkt an ihre Mutter, an die vergeblichen Versuche, gemeinsam zu beten. Die Stimme der Mutter klang wie jene eines alten Mannes, sonor und feierlich, beinahe pastoral. Die Ratlosigkeit hätte sie ertragen. Das Bevormunden nicht. Draußen vor dem Fenster steht ein Baum auf einer Wiese. Der Nachhall eines Liedes hängt noch zwischen den Zweigen, doch der Vogel sitzt nicht mehr auf dem Ast.

Muss Vergebung sein um jeden Preis?
Den Frieden mit sich selbst zu schließen, erachte ich als höheres Ziel, als jemandem etwas zu vergeben, das der Seele unheilbaren Schaden zufügte.
Kann erreicht werden, dass trotz der Zerstörung das Innere Gleichgewicht wiedererlangt werden kann, ist die härteste Vergebungsarbeit getan.
In der katholischen Kirchenmentalität zäumt man den Gaul seit jeher am Schwanze auf.
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Absolute Beipflichtung meinerseits; das Erzwingen von oder Drängen auf Vergebung scheint mir zumindest fragwürdig. Manchmal geht es nicht. Manchmal braucht es einen anderen Weg, denke ich.
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen, für deinen Blickwinkel und deine Gedanken…
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ich glaube nicht, daß es erleichtert, wenn man/frau in einem solchen Fall vergeben könnte. Meiner Meinung nach könnte es nicht ehrlich sein. Vergeben kann einer, der eine schier unendliche Weisheit erreicht hat, aber wie kann man sie erlangen, wenn die Seele zu Boden getreten wurde?
Es kann doch nur eine gesunde Seele wirklich vergeben, oder nicht? Was meinst Du, lieber Disputnik?
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Ich weiss nicht, was es braucht, um vergeben zu können, ob es um Weisheit geht… Mir würde das Vergeben wohl auch mit gesunder Seele oftmals schwer fallen… Vielen Dank fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni…
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*lächel*, so geht es mir auch
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Es ist solch eine berührende Geschichte, die viele Fragen aufwirft und den Leser anhält.
Vergebung soll nicht für die Anderen gut sein, sondern nur für sich selbst. Sie heißt nicht, dem Anderen in die Arme zu fallen und zu sagen: „Macht ja alles nichts …, ich vergebe dir. So darf es dir wieder gut gehen“, sondern sie soll dazu dienen, in sich selbst Frieden zu finden, zumindest jenen Frieden, der wieder leben und freier atmen lässt.
Danke für diese Geschichte!
Herzlichst, Sylvia
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Es dürfte, wie so oft, eine Frage der Umstände sein, ob und unter welchen Bedingungen Vergebung gut und möglich ist. Manchmal scheint sie zumindest kaum vorstellbar… Vielen lieben Dank fürs Lesen und für deine Worte…
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Ja, das ist auch wahr. Es ist ein sehr langer, steiniger Weg. Oft denkt man auch, man könne ihn nicht gehen und wenn er zu beschwerlich ist, dann gibt es ja vielleicht einen anderen Weg. Liebe Grüße, Sylvia
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Ja, es ist zu hoffen, dass da andere Wege sind, falls jener nicht gangbar ist… Herzliche Grüsse…
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Einmal mehr berührend und fixierend. Vergebung ist oft nicht möglich.
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Ja, sie ist wohl häufig nicht möglich, und manchmal scheint mir schon das Streben danach irgendwie fragwürdig oder zumindest merkwürdig… Lieben Dank fürs Lesen und die Worte!
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