Er war noch ein Kind, als er ihr ein Bild malte, mit Wasserfarbe und dickem Pinsel; ein Haus und die Familie, in der rechten oberen Ecke eine Sonne mit sieben Strahlen, und irgendwo auch der Hund, den er sich immer gewünscht hatte, aber nie haben durfte. Sie freute sich und hängte das Bild an die Kühlschranktür. Irgendwann bekamen sie einen neuen Kühlschrank, und das Bild verschwand.
Seit Jahren fragte sie ihn, wann er ihr ein Bild malen würde. Natürlich würde sie sich auch darüber freuen, wenn er vollkommen unbekannt wäre, versicherte sie ihm, doch da er ja mittlerweile ein berühmter Künstler sei, wäre sie natürlich doppelt glücklich darüber, ein Werk von ihm zu besitzen. Jaja, erwiderte er jeweils, sie werde ein Bild bekommen, ein ganz persönliches, doch ein wenig Geduld müsse sie noch aufbringen.
Es gab eine Zeit, in der ihn niemand besser kannte als seine Mutter, und als er im Dunkeln tappte, brachte sie ihm eine Taschenlampe. Er zweifelte nie an seiner Dankbarkeit, auch nicht an seiner Liebe. Vielleicht lag es am inneren Sehvermögen, dass er sie dennoch ein wenig aus den Augen verlor. Sie hingegen blickte unentwegt in seine Richtung, hätte ihn gerne häufiger gesehen, und eben, ein Bild wäre schön gewesen. Jaja, erwiderte er, wenn sie zum wiederholten Male danach fragte, sie werde ein Bild bekommen, schon bald.
Als sie allmählich aufhörte, ihn damit zu behelligen, fiel es ihm gar nicht auf. Er war wohl beschäftigt, er war immer beschäftigt, auch wenn er längst nicht so etabliert war, wie seine Mutter glaubte. Am Kühlschrank hing eine Haftnotiz, die ihn daran erinnerte, ein Bild für seine Mutter zu malen, und manchmal ließ das schlechte Gewissen seinen Blick zu Boden fallen. Sie würde ihr Bild bekommen, schon bald, sagte er zu sich selbst. Doch sie kam ihm zuvor.
Wenige Minuten, nachdem der Anruf kam, begann er zu malen. Wie von Sinnen ließ er den Pinsel über die Leinwand rasen, wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augenwinkeln und malte weiter. Mehrere Male riss er ein angefangenes Bild von der Staffelei und warf es zur Seite, begann von vorne, wütend über sich selbst und sein Unvermögen, ein adäquates Werk zu schaffen. Immer wieder lehnten sich die Borsten des Pinsels gegen seine Impulse auf, Striche liefen ins Leere, die Zeit schien sich zu dehnen und auszufransen. Seine Beine drohten dem Druck nicht mehr standzuhalten, als er endlich die Schultern sinken ließ, einen Schritt zurücktrat und das Bild betrachtete.
Der Morgen ist erst schwach beleuchtet, die Luft liegt kühl und träge über den Feldern, als er zur Friedhofskapelle schleicht. Er blickt sich unsicher um, verharrt kurz und öffnet vorsichtig die Tür zum Seitenraum. Der Friedhofsgärtner, den er zur Mithilfe überreden konnte, hatte ihm gesagt, dass der Sarg im Raum stehen würde, und trotzdem zuckt er zusammen, als er ihn sieht. Mit gesenktem Blick geht er zur Ecke des Raumes, baut die klapprige Staffelei auf und stellt das Bild auf die Querleiste. Er setzt sich auf einen der Stühle, die für die Beerdigung bereitgestellt wurden, und starrt abwechselnd auf den Sarg und das Bild. Als die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster dringen, steht er auf, räuspert sich und nickt schwach. Dann verlässt er den Raum.

Sehr schön erzählt. Für mich ein Konflikt, der oft in mir aufkommt, aber dann verschoben wird. Ich könnte mir vorstellen, dass er im Leben sehr vieler Menschen präsent ist. Dinge, die man gern tun würde, Menschen, die man gern anrufen würde. Wenn Zeit wäre.
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Ja, wenn Zeit wäre, vor allem vielleicht, wenn’s die richtige Zeit wäre, und manchmal ist die Zeit wohl auch einfach nur eine Ausrede… Schönen Dank fürs Lesen und für deine Gedanken…
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Es gibt ein Märchen von der Nachtigall und dem schönen Dompfaff. Deine Geschichte erinnert mich daran:
Einst rief die Mutter die beiden Vögel zu sich, weil sie im Sterben lag. Der Dompfaff musste sich erst herausputzen. Die Nachtigall blieb wie sie war, eilte zur Mutter und sang für sie, bis sie starb.
Darum singt die Nachtigall bis heute in ihrem unscheinbaren Kleid wunderschön, der Dompfaff trägt ein prächtiges Kleid, doch sein Lied klingt immer traurig und ruft nach der toten Mutter.
Tolle Geschichte.
Liebe Grüße✨
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Oh, klingt nach einem wunderbaren Märchen… Vielen Dank dafür, fürs Lesen und für deine Worte… Und liebe Grüsse zurück…
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oh, lieber Disputnik, was für eine Geschichte.
Sie könnte wahr sein, denn es passiert häufig, daß die Wünsche anderer vorrangig behandelt werden.
Der Wunsch der Mutter (es kann natürlich auch ein Vater sein) kann irgendwann einmal erfüllt werden, das hat keinerlei Eile, sie war doch immer da und wird selbstverständlich auch immer weiter da sein. Keine Frage. Sterben??? Kann eine Mutter doch gar nicht! Oder doch?
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Hmmja, man würde oft gerne und glaubt, man sollte doch, auch wäre es häufig ganz einfach, doch dann tut man’s oftmals doch nicht, schiebt es auf, immer wieder, bis es irgendwann vielleicht zu spät ist… Vielen Dank dir, liebe Bruni, für dein Lesen und für deine Gedanken.
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