Man sieht ihn in der Regel nur, wenn man sich ungut und krank fühlt, wenn Schmerzen oder Beschwerden die Tage plagen, und womöglich erschweren diese Umstände das Zeichnen eines genauen Bildes von ihm. Er ist Arzt, also ist er gut ausgebildet und medizinisch kompetent, er ist freundlich, aber eher kühl und distanziert, er ist in allen Belangen neutral, hat keinen eigenen Geruch. Zweifellos ist er vermögend, wohnt in einem großen und luxuriösen Haus in einem Viertel, das nur aus großen und luxuriösen Häusern besteht, er fährt einen Geländewagen von BMW oder Mercedes, denn Ärzte sind so, sagt man.
Als man ihm nun gegenübersitzt, in einem Abteil im Zug, erkennt man ihn zunächst nicht. Ohne seinen weißen Kittel sieht er aus wie ein Mensch. Erst nach dem zweiten Blick hat man ihn identifiziert, in der Begrüßung schwingt noch der Klang der Überraschung mit.
Man will wissen, ob er auch unterwegs sei, und ist kurz erstaunt über die Sinnlosigkeit der Frage. Er nickt und sagt, er wolle seine Schwester besuchen, sie sei krank, oder nein, nicht krank, sie habe Probleme, persönliche, irgendwie. Dann stockt er, und man weicht seinen Augen kurz aus. Zögerlich fragt man, ob es was Schlimmes sei, und er sagt, schlimm sei relativ, und dann sitzt er da, die Schultern ein wenig eingefallen, die Blicke in die Landschaft gestreut, die vor dem Zugfenster vorüberzieht und keinen Halt bietet.
Irgendwann beginnt er trotzdem zu erzählen, von der Schwester, die schon immer traurig gewesen ist, von der Angst, als man sie tagelang nicht erreichen konnte, vor der Zeit und der Energie und der Unfähigkeit, ihr zu helfen. Und während er redet, mit ruhiger und gefestigter, nur leicht zitternder Stimme, wird er immer wärmer und kleiner, kommt näher, obwohl er immer noch auf dem viel zu bunten Sessel sitzt.
Man unterhält sich weiter, antwortet bereitwillig auf seine Fragen und hört ihm zu, wie er von seinen Kindern erzählt. Er hat eine Tochter und einen Sohn, beide fast erwachsen, und er ist froh, dass sie keine Ärzte werden wollen. Der Sohn sei so kreativ, ein richtiger Künstler halt, das findet er als Vater wundervoll. Und die Tochter sei politisch aktiv, schon in diesem Alter; er bewundere das, sagt er, und dann leuchten seine Augen, während er seine Blicke wieder in die Landschaft streut.
Nach dem Aussteigen verabschiedet man sich, er bietet das Du an, also dann, sagt man, alles Gute, Alfred, und dann geht er, hinaus aus der Bahnhofshalle, hinein in die Stadt, hinein in die Welt, zu seiner Schwester, wahrscheinlich. Man schaut ihm nach, bis er zwischen den anderen Menschen verschwunden ist. Dann lächelt man und ist seltsam stolz, ihn Alfred nennen zu dürfen, und irgendwie ist man dankbar, wem und warum auch immer.

Die Magie einer Begegnung von Mensch zu Mensch! Schön eingefangen!
LikeGefällt 1 Person
Vielen lieben Dank dir; fürs Lesen und für deine Worte…
LikeLike
*lächel*, die Distanz bröckelt und der Kontakt wird menschlicher.
Gut zu verstehen, was Du hier reinpackst und doch ist es bei mir so ganz anders.
Empfinde ich die Distanz zum Arzt als zu groß, komme ihm als Mensch nie näher,
wird er nicht lange mein Arzt sein, lieber Disputnik, ich ziehe mich zurück.
Da ich auch viele Ärzte ohne Staatskarossen kenne *g*, glaube ich, daß sich das Bild des
Arztes von heute doch sehr gegen früher gewandelt hat 🙂
LikeGefällt 1 Person
Ja, das Bild hat sich wohl gewandelt, zumindest meines, aber die Distanz ist bei mir doch manchmal noch spürbar, irgendwie. Und im konkreten Fall war die Begegnung, welche zum Text inspirierte, keine mit dem gegenwärtigen Arzt…
Vielen herzlichen Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und für deine Worte… Schönes Wochenende dir…
LikeGefällt 2 Personen
Es gibt sie noch, ich weiß *g*. Die fordern sich diese Distanz durch ihr Verhalten immer noch ein…
Liebe Grüße zu Dir, lieber Disputnik
LikeGefällt 1 Person
Irgendwie sehr schön.
LikeLike
Vielen lieben Dank!
LikeGefällt 1 Person