Die Katze fiel vom Fenstersims. Sie landete auf den Beinen, Katzen landen fast immer auf den Beinen. Das war natürlich erfreulich, und als die Katze offensichtlich unverletzt auf dem Asphalt stand, dürfte sie wohl auch eine adäquate Erleichterung verspürt haben. Zwar war es nur die zweite Etage gewesen, aus welcher sie gefallen war, doch in einer Welt, in der man schon als Folge einer Nahrungsmittelunverträglichkeit verenden oder in seichten Bächen ertrinken kann, muss man wohl froh sein, wenn man selbst scheinbar harmlose Gefahrensituationen überlebt. Und froh war sie, die Katze, so froh, dass sie ihre übliche Vorsicht für einmal vernachlässigte. Ohne prüfende Blicke nach links und rechts überquerte sie die Straße, zumindest teilweise. Auf halbem Weg wurde sie von einem LKW überfahren. Der Fahrer bemerkte es nicht und fuhr unbeirrt weiter.
Nur wenige Sekunden nach dem gewaltsamen Ableben der Katze kam Eva um die Ecke. Die Katze gehörte Eva, gehörte zu Eva, schon seit Jahren, und auch wenn sie dem Tier keinen Namen gegeben hatte, war es wichtig, wahrscheinlich sogar wichtiger, als es Eva zugeben wollte. Als sie den flachen und pelzigen Körper auf dem Asphalt erblickte, wusste sie sofort, dass es ihre Katze war. Sie erstarrte, rannte dann zu ihr hin und erstarrte erneut. Ihr Gesicht verblasste wie eine alte Fotografie, ihre Unterlippe zitterte ein wenig. Wäre ihr Leben ein Film gewesen, hätte die Kamera nun ihren Kopf gezeigt, der reglos auf dem Hals ruhte, hätte ihren leeren Blick in Szene gesetzt, womöglich auch den Moment, in welchem ein sanfter Windstoß eine Haarsträhne von ihrer Stirne wehte, untermalt von sanfter Klaviermusik. Doch ihr Leben war kein Film. Und sie wusste oft nicht, ob man es überhaupt ein Leben nennen konnte.
Eine Stunde später sitzt Eva am Rande des flachen Daches des hohen Wohnblocks, weit über dem Fenstersims, von welchem ihre Katze nach unten fiel. Sie sitzt nicht zum ersten Mal hier, doch nun soll es das letzte Mal sein. Ihr Kopf ist leer, so leer wie selten, und als eine Stimme ertönt, klingt es, als würde jemand in einer großen Halle nach ihr rufen. Zunächst glaubt sie an ein Störgeräusch in ihren Ohren, doch dann spürt sie eine Hand auf ihrer Schulter und zuckt zusammen. Sie dreht sich um und sieht in das fleischige Gesicht von Josef, dem Hausmeister. Sie mag ihn, er ist der liebe Onkel, den sie niemals hatte. Was machst du denn hier? fragt er mit seiner tiefen, leicht brüchigen Stimme. Sie will etwas erwidern, doch ihr fällt keine Antwort ein.
Nun sitzen sie nebeneinander, Josef und Eva. Sie erzählt von der toten Katze, und als er ihr die Hand auf die Schulter legt, schenkt sie ihm zum Dank ein zaghaftes Lächeln. Als ich ein Kind war, damals in der Tschechoslowakei, hatte ich einen Hund. Josef blickt zum bewölkten Himmel und dann wieder zu Eva. Er war mein bester Freund. Dann wurde er krank und starb bald darauf. Ich war sehr traurig, und ich war wütend. Wütend auf Gott, dass er den Hund hat sterben lassen. Wütend auf meinen Vater, der dem Hund nicht helfen konnte. Wütend auf die Welt, die sich einfach weiterdrehte, als wäre nichts geschehen.
Josef hustet, und Eva zieht die Nase hoch. Es ist nicht die Katze, sagt sie nach einem Räuspern. Nicht nur. Es ist alles. Alles und nichts. Keine Ahnung. Irgendwie sind alle Farben grau. Ich bin einfach müde. Die Katze war wohl einfach ein guter Grund, um weiterzumachen. Jetzt ist sie tot. Und eine neue Katze will ich gar nicht. Sie erzählt Josef von Dingen, die geschehen sind, von Verletzungen und Narben, doch nach einem Blick in seine alten Augen verstummt sie für einen Moment und beißt auf ihre Unterlippe. Eigentlich ist nichts davon schlimm, oder? Mir geht es eigentlich gut. Ich hab keinen Grund, mich zu beklagen. Das ist doch schön, denke ich. Doch es macht das Ganze nur noch viel unerträglicher.
Eva starrt auf ihre Finger, trommelt mit den Daumen auf ihre Oberschenkel. Josef nickt und hustet abermals. Damals, nach dem Tod meines Hundes, versteckte ich mich hinter dem Haus und wollte auch sterben. Stundenlang hockte ich dort im Schatten auf der feuchten Erde. Natürlich kam ich irgendwann wieder hervor, es wurde wohl dunkel draußen, es begann vielleicht zu regnen, und das Leben geht eben weiter. Aber manchmal, da sitze ich noch immer hinter dem Haus, verstehst du? Ich kehre immer wieder zurück. Es war nicht der schlimmste Tag in meinem Leben. Doch es ein guter Ort, um die schlimmen Tage auszuhalten. Ich weiß nicht, ob du weißt, was ich meine.
Sie zuckt mit den Schultern. Durch eine kleine Öffnung in der Wolkendecke blitzt die Sonne für einige Augenblicke auf, dann schließt der Himmel die Lücke wieder. Eva zieht die Knie zum Kinn, schlingt ihre Arme um die Schienbeine und blickt nach oben. Schließlich dreht sie sich wieder zu Josef um. Sie sehen sich schweigend an, und als er ihr die Hand auf die Schulter legt, schenkt sie ihm zum Dank ein zaghaftes Lächeln.

Toll geschrieben. Ich habe den Text gelesen, dann laut vorgelesen. Er ist so dicht und hat mich so in die Geschichte gezogen, dass ich noch immer ganz berührt bin. Danke dafür!
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und Hineinziehenlassen und für deine Worte! Herzliche Grüsse!
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Eine Geschichte vom Sterben, von Kummer und Leid und eine schöne vom Trösten, denn wie kommen wir ohne Trost klar?
Schlecht geht es und wir vergraben uns und eine einzige Hand, die wir tröstend spüren, die würde doch schon reichen… (sehr oft), denn es wäre ein Teilen.
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Vielleicht reicht eine einzige Hand nicht immer, aber jede Hand ist doch wertvoll, zumeist jedenfalls, auch wenn wir’s im Moment nicht immer annehmen können…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Eine Geschichte, die trotz ihrer Traurigkeit Trost bietet. Heute ist ‚Erzähl-eine-Geschichte‘-Tag.
In Geschichten, in denen Ähnlicherlebtes erzählt und weitergegeben werden, verbinden sich nicht nur Gegenwart und Vergangenheit, sondern auch Menschen. Sie halten einander an unsichtbaren Händen durch ihre Worte. Ein geborgenes Gefühl, im Ähnlichen eines anderen ein verstehendes zaghaftes Lächeln zu finden.
Liebe Grüße von der Fee✨
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„Sie halten einander an unsichtbaren Händen durch ihre Worte.“
Ein wunderbares Wortbild, vielen Dank dafür, und fürs Lesen und deine Worte sowieso…
Herzliche Grüsse zurück…
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