Sie war die älteste Frau im Dorf. Vielleicht war sie ein Elefant, vielleicht ein Geist, vielleicht eine hölzerne Statue, vom Leben geschnitzt. Man wusste es nicht, und man fragte sie nicht. Stattdessen fragte man sie alles andere. Die Kinder fragten nach dem Blau des Himmels, nach dem Donner und dem Blitz, nach der Körpergröße der Dinosaurier. Die Erwachsenen glaubten, alles zu wissen, und fragten dennoch unablässig, um sich das Nachdenken zu ersparen, vielleicht. Jeden Abend hatte die alte Frau einen trockenen Mund vom Beantworten der unzähligen Fragen. Sie war müde und erschöpft, manchmal so sehr, dass der Kopf schmerzte. Doch sie tat es gerne. Sie hatte bei Descartes gelesen, über das Denken und das Wissen, über das Zweifeln und Hinterfragen. Und jede Frage, die sie einem Menschen beantwortete, machte auch sie selbst reicher und weiser.
Die Leute im Dorf kamen in Scharen, manche unter ihnen fanden sich jeden Tag in der kleinen Hütte der alten Frau ein, und nicht wenige stellten die gleichen Fragen immer wieder, ohne mit den Antworten jemals zufrieden zu sein. Man war froh, dass die alte Frau auf jede Frage eine Antwort wusste, so froh, dass man mitunter annahm, es wäre selbstverständlich und man hätte ein Anrecht auf die Beantwortung jeder erdenklichen Frage, wie absurd oder trivial oder unanständig sie auch sein mochte.
Ein junger Mann etwa wollte wissen, wann er eine Frau finden würde. Immer wieder besuchte er die alte Frau und stellte die Frage in den kleinen Raum ihrer Hütte. Und immer wieder erwiderte die alte Frau, dass man die Dinge des Herzens nicht drängen oder erzwingen könne. Der junge Mann wusste mit dieser Aussage nicht viel anzufangen. Je häufiger er seine Frage wiederholte und die alte Frau sie dergestalt beantwortete, desto mehr frustrierte ihn die Situation und die scheinbare Unergiebigkeit ihrer Worte. Er wurde wütend und böse, warf den Stuhl um und knallte die Tür zu. Eines Tages war sein Zorn so groß, dass ihm die Kontrolle darüber entglitt. Zunächst war es nur eine Ohrfeige. Doch offenbar war dadurch eine giftige Pforte geöffnet, und der junge Mann prügelte mit kalten Fäusten und nacktem Hass auf die alte Frau ein. Erst als seine Arme jede Kraft verloren hatten, hörte er auf, ließ von der Frau ab und schlich aus der Hütte, hinein in die schützende Dunkelheit der Welt.
Am nächsten Tag war die alte Frau verschwunden. Niemand wusste etwas über ihren Verbleib, niemand hatte eine Ahnung, wohin sie sich hätte zurückziehen können, denn niemand kannte die Koordinaten ihres Lebens. Man flüsterte und munkelte, man malte hilflos Fragezeichen in die Luft, und allmählich wurde man unruhig. Wer würde nun all die Fragen beantworten? Wohin würde man gehen können, um den Mysterien des Lebens zu begegnen? Bleiche Angst schlich in die Gesichter der Leute, die Blicke verloren sich in der Ferne. Ein paar Tage später kam die alte Frau zurück, war einfach wieder da, in ihrer kleinen Hütte. Endlich, sagten die Leute. Niemand fragte, wo sie gewesen war. Stattdessen fragte man sie alles andere. Und alles war wieder so, wie es immer gewesen ist.

Kalt. Berührend. Erschreckend.
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Danke dir. Fürs Lesen und Erschrecken.
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Danke. Ich war auf der Suche nach passenden Worten für diese Geschichte. Du hast sie gefunden.
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