Sein Name war Luigi, zumindest stand dieser Name auf dem kleinen Holzschild, mit welchem er seinen Imbisswagen beschriftet hatte, und damals glaubte sie fast alles, was sie sah, vor allem am Strand in der Nähe von Pescara an der italienischen Adriaküste. Sie war sieben Jahre alt, acht Jahre alt, dann neun, dann zehn, elf, zwölf, doch Luigi war immer gleich alt, sah immer gleich aus, ein kleiner Mann mit einer großen Nase und einem Unterhemd, das nur theoretisch weiß war. Bei Luigi gab es merkwürdige Hamburger mit Pizzabrot zu kaufen, Gebäck und kalte Getränke und vier Sorten Eis, und alles schmeckte so, wie nichts anderes schmeckte, alles schmeckte nach Urlaub, nach Freiheit, nach Wahrhaftigkeit. Mehr noch als das Meer und der Sand am Strand war Luigi eine Art Botschafter, eine Symbolfigur für den Urlaub, für die Dichte des Lebens, da war immer mehr Leben im Leben während des Urlaubs, jedenfalls damals an der Adria. Und Luigi, von dem sie nicht mehr wusste als den Namen, dieser Luigi war wichtig, war wertvoll, hatte einen Platz in ihrem Leben, und die Tatsache, dass sie in seinem Leben wohl kaum eine Rolle spielte, die über ihre Funktion als Einnahmequelle hinausging, bedachte sie gar nicht, oder sie war ihr egal.
Als sie in der Schule einst einen Vortrag zu einem frei wählbaren Thema halten musste, entschied sie sich für Gandhi, für sein Leben und Wirken. Sie las Bücher, sammelte Bilder, machte sich Gedanken und Notizen. Sie wusste wohl nicht alles, aber sehr viel über ihn, und sie wusste, wie wichtig er war, welche Bedeutung er für Indien, für Südafrika, für die gesamte Welt hatte.
Irgendwann, viele Jahre später, machte sie mit Freunden eine Reise in einem alten Campingbus. Sie fuhren unter anderem der italienischen Adriaküste entlang, und als sie in der Nähe von Pescara waren, erzählte sie von Luigi und seinem Imbisswagen, und was sie nicht in Worte fasste, ließ sich aus ihren Augen lesen. Alle drängten auf einen Abstecher an den Strand, und zunächst fand sie die Vorstellung wunderbar, doch dann winkte sie ab, etwas hielt sie zurück. Sie ahnte, dass Luigi nicht dort sein würde, und der Gedanke löste ein merkwürdiges Unbehagen aus. Sie fuhren zu einem anderen Strand, doch das seltsam taube Gefühl hielt noch an.
Und nun, weitere Jahre später, schreibt sie Songs, und die Songs, sie handeln von prägenden Elementen ihres Lebens, von wichtigen Momenten, wichtigen Menschen. Eines der Lieder erzählt von Luigi, von seinem Imbisswagen am Strand, von den merkwürdigen Hamburgern mit Pizzabrot und den vier Sorten Eis. Sie singt über sein Unterhemd und darüber, dass alles so schmeckte, wie nichts anderes schmeckte, und manchmal glaubt man ein Glitzern in den Augen zu bemerken. Sie singt noch andere Lieder. Aber keines davon handelt von Gandhi.

eine wunderfeine geschichte mit feinem hintersinn.
gut erkennbar das, was wichtig sein sollte, kurze zeit auch wichtig war und das, was dem herzen wichtig ist, was sich nicht durch die zeit vertreiben läßt, was bleibt, dicht u. intensiv, während anderes nach und nach verblasst, wenn herz und seele keinen anteil hatten…
du kommst nicht zu mir, lieber disputnik, komm ich zu dir
und liebe grüße von mir
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Vielen herzlichen Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und für deine Gedanken…
(Und ich war doch bei dir, grad gestern wieder, blieb aber wie so oft wortlos, tut mir leid.)
Liebe Grüsse zurück…
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ach so *freu*, ist schon ok
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Danke für diese Geschichte, die ich auch für die 60er Jahre unterstreichen kann. Noch Jahre später hätte ich den bsten Eisbecher gegen 2 Kugeln des jährlich so ersehnten „Gelato nostalgia“ eingetauscht 🙂
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Sehr schön… Vielen lieben Dank fürs Lesen und fürs Teilhabenlassen an den eiskalten Erinnerungen…
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Die trugen alle Poloshirts, weiss, mit Logo.
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Was das Herz trifft oder eben den Verstand… LG
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..und manchmal haben Herz und Verstand nicht das gleiche Erinnerungsvermögen… Danke fürs Lesen und die Worte!
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Ich glaube fast, niemals! Gerne.
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In Grado hiess er Giovanni. Und er verkaufte Kroketten, Pommes, Schnitzel und Poulet.
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Mit oder ohne Unterhemd?
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