Die Spinne.

Jeder Raum ihrer neuen Wohnung ist Brachland, jeder Winkel erzählt von einem neuen Anfang, die Wände sind nackt, als wären sie gerade erst zur Welt gekommen. Der Geruch von Farbe hängt noch in der Luft, vermengt mit den süßlichen Vanillenuancen der Duftkerzen, die sie anzuzünden pflegt. Sie ist ebenfalls häufig nackt, wie frisch geboren, will … Weiterlesen Die Spinne.

Die Geschichten im Blick.

Manche Menschen tragen ihr Herz in den Augen, vor allem, wenn es schwer ist. Sie war ein solcher Mensch. Ihre Blicke erzählten traurig-trübe Geschichten, die womöglich gar keine richtigen Geschichten waren, höchstens Fragmente, Skizzen. Aber was sind schon richtige Geschichten? Manchmal reichen sechs Wörter, um eine Geschichte zu erzählen. Und ihre Blicke brauchten nicht einmal … Weiterlesen Die Geschichten im Blick.

Der Berg im Fenster.

In seinem Kinderzimmer hingen Poster an der Wand, Bilder von Queen und Kim Wilde und den Blues Brothers, immer wieder andere Gesichter, stetig wechselnde Idole an drei Wänden seiner kleinen Welt. Die vierte Wand war keine Wand, sondern die Fensterseite, mit drei gleich großen Fenstern, und dort waren keine Popstars zu sehen. Dort stand ein … Weiterlesen Der Berg im Fenster.

In der Klinik.

Sie hat sich nicht abgemeldet, hat niemanden informiert, hat niemandem erklärt, wohin sie geht, weil sie dann hätte erklären müssen, weshalb sie dorthin geht, und das wäre ihr wohl kaum gelungen. Von der verlassenen Anlage hatte sie durch Zufall erfahren; in einem Café hatte ein Mann einer Frau erzählt, dass er dort Fotoaufnahmen gemacht hatte, … Weiterlesen In der Klinik.

Die Schattenmänner.

Man sitzt in diesem kleinen Warteraum beim großen Bahnhof. Gegenüber sitzt ein junger Mann mit riesigen Kopfhörern, sein Blick klebt auf dem Smartphone in seinen Fingern, sein Gesichtsausdruck erzählt von Konzentration oder von Gleichgültigkeit, es ist schwierig zu beurteilen. Draußen geht die Welt unter, vielleicht ist es auch einfach nur ein ganz normaler Dienstag, man … Weiterlesen Die Schattenmänner.

Millennium.

Die Experten im Fernsehen waren bemüht, immer wieder zu betonen, dass sich kein Szenario ausschließen ließe. Mit großer Wahrscheinlichkeit würden bei den meisten Systemen keine Probleme auftreten. Es könne aber durchaus sein, dass man in manchen Fällen mit Störungen konfrontiert werden würde. Die pessimistischen Stimmen beschrieben derweil den totalen Kollaps. Stromnetze, Verwaltungen, Atomanlagen, Sicherheitssysteme, Kommunikationsmittel … Weiterlesen Millennium.

Das Knarren.

Da war nichts, sagt er sich. Trotzdem richtet er sich auf, bleibt einige Sekunden lang starr und angespannt, wartet ab, ob er nochmals etwas hört. Doch alles ist ruhig, das Haus ist still. Da war wohl tatsächlich nichts. Er blickt auf die Digitalanzeige seines Weckers. 2:11, sagen die roten Ziffern. Er weiß nicht genau, ob … Weiterlesen Das Knarren.

Allein in der Stadt.

Er fährt in eine Stadt, die er nicht kennt, er fährt ohne Begleitung, ganz allein, ihm ist niemand bekannt, der in jener Stadt wohnt oder zumindest in relativer Nähe lebt, er ist ein Fremder ohne jegliche Bezugspunkte; jedes Gesicht ist ein neues Gesicht, jede Gasse ist unbekanntes Terrain, jede Häuserecke ist Neuland, und alles, was … Weiterlesen Allein in der Stadt.

Marienkäfer.

Bisweilen hustet sie, hält sich die hohle Hand vor den Mund, und obwohl es ein trockener Husten ist, prüft sie die Handfläche auf Auswurf oder Rückstände. Manchmal sind da kleine Stücke einer Banane oder Brotkrumen, je nach dem, was sie gegessen hat. Meistens aber ist nichts zu sehen. Nur die Risse und Furchen ihrer Haut. … Weiterlesen Marienkäfer.

Talion.

Da war jener Junge, vielleicht ein Jahr jünger als man selbst, und aus längst vergessenen Gründen geriet man aneinander. Es entwickelte sich ein kindlich-unbeholfener Disput, und irgendwann, wohl als Ersatz für ein fehlendes Argument, spuckte der Junge. Man wischte sich den fremden Speichel aus dem Gesicht, wehrte sich gegen einen plötzlich auftretenden Brechreiz und taumelte … Weiterlesen Talion.

Da capo al fine.

Sie greift an den Hals der Violine, ertastet die Saiten und das schmale Griffbrett, lässt die Fingerkuppen über das glatte Holz des Korpus gleiten. Noch immer, nach all den Jahren, hat sie den Eindruck, die Violine sei ein lebendes Geschöpf, ein Wesen, das atmet und empfindet und reagiert. Sie steht in der Mitte ihres Wohnzimmers, … Weiterlesen Da capo al fine.

Womöglich ist womöglich ein ziemlich unnützes Wort.

Der Vater hat immer gesagt: Wenn man die Augen schließt und sich genügend lange an einen anderen Ort denkt, kommt man irgendwann dort an. Er hat nicht erzählt, wie erschreckend die Rückkehr sein kann, wenn man die Augen dann wieder öffnet. Anmerkung: Diese Geschichte entstand im Hinblick auf eine «ambulante Lesung», organisiert in Zusammenarbeit mit … Weiterlesen Womöglich ist womöglich ein ziemlich unnützes Wort.

Michael Jackson.

Michael Jackson ist tot, und sie hat ihn umgebracht. Dabei liebte sie ihn, damals in der Schule, wie die meisten anderen Kinder auch, er war so anders und so schön, er war so weit weg und doch so nah, er war kein Mensch und ließ sie trotzdem spüren, dass sie selbst ein Mensch war. Michael … Weiterlesen Michael Jackson.

Der Häuptling schweigt.

«Erst wenn der letzte Baum gerodet…», und er sieht das Poster vor sich, wie es damals in seinem Kinderzimmer an der Wand hing, er sieht den alten Indianerhäuptling, seine ledrige Haut, voller Furchen und gelebter Zeit, er sieht auch die großen Buchstaben auf der monochromen Abbildung, den memorablen Spruch in trivialer Typographie, und in der … Weiterlesen Der Häuptling schweigt.

Wolf.

Ein Fensterladen hängt schief in den Angeln. Das ist nicht neu, das ist schon seit Jahren so, und eigentlich müsste man ihn reparieren, vielleicht sogar ersetzen, aber sie tun es nicht. Ach, das lohnt sich gar nicht mehr, sagen sie, falls sie überhaupt etwas sagen und nicht nur mit den alten Schultern zucken. Sie, das … Weiterlesen Wolf.

Das Schweigen der Stadt.

Die Konturen der fernen Landschaft sind unverändert, die Zeit hat höchstens einige Dellen hinterlassen. Aber schon am Rand der kleinen Stadt ist nahezu nichts mehr so wie früher, die Erinnerungen scheinen Trugbilder zu sein, die charmanten Holzhäuser mussten grauen Klötzen weichen. Sie fährt ihren kleinen Fiat an den Straßenrand und steigt aus, legt die Unterarme … Weiterlesen Das Schweigen der Stadt.

Der traurige Hund ist tot.

Da ist ein trauriger Hund am Himmel, mit hängendem Kopf blickt er über den nahen See. In einiger Entfernung ist eine Atombombe explodiert, daneben hockt ein dünnes Kaninchen. Schon in einer Stunde wird alles anders sein, morgen werden andere Wolken am Himmel stehen, irgendwann wird alles vorüber sein, und er fragt sich, ob es zu … Weiterlesen Der traurige Hund ist tot.

Neun Augenblicke.

Ein Mann fährt allein in seinem Mitsubishi auf der Autobahn, als er ein anderes Fahrzeug überholt, an dessen Steuer ein Mann sitzt, der genau gleich aussieht wie er, zumindest der Kopf und das Gesicht scheinen identisch; sogar der leichte Knick im Nasenrücken ist da, und während sich die Blicke der beiden Männer treffen, gerät der … Weiterlesen Neun Augenblicke.

Wenn, dann.

Wenn man nicht noch die Nase hätte putzen müssen, dann wäre man früher aus dem Haus gekommen und hätte das Pony mit den kurzen Beinen nicht gesehen, das zügellos über die Straße lief. Wenn man nur einen halben Meter weiter rechts gegangen wäre, dann wäre man nicht auf dem Glatteis ausgerutscht. Wenn man nichts gesagt … Weiterlesen Wenn, dann.