Bisweilen hustet sie, hält sich die hohle Hand vor den Mund, und obwohl es ein trockener Husten ist, prüft sie die Handfläche auf Auswurf oder Rückstände. Manchmal sind da kleine Stücke einer Banane oder Brotkrumen, je nach dem, was sie gegessen hat. Meistens aber ist nichts zu sehen. Nur die Risse und Furchen ihrer Haut.
Die alte Frau steht am Fenster. Draußen erfriert ein brauner Herbst, wird stetig stiller. Über dem nahen Wald hängen Nebelfetzen, dahinter verschwindet die Welt im hellgrauen Nichts. Sie entdeckt ein kleines Kind, das auf der Wiese sitzt und mit einem Plastikball spielt. Der Ball ist rot, mit schwarzen Punkten. Er sieht aus wie ein Marienkäfer. Das Kind hebt ihn hoch, dreht ihn ein wenig in den kleinen Händen und lässt ihn dann fallen. Es lacht glucksend, während der Marienkäfer sich auf den Rücken rollt.
Neben dem kleinen Kind taucht unvermittelt ein Mädchen auf, dünn und drahtig, mit langen blonden Haaren, die von einem rosaroten Band zu einem Pferdeschwanz gebündelt werden. Die Haare wirbeln, der ganze Körper wirbelt, unaufhörlich. Das Mädchen schlägt ein Rad, dann noch eines, immer wieder. Die alte Frau beobachtet die Bewegungen des Mädchens, folgt den Beinen, die sich vom Boden heben, durch die Luft fliegen und wieder landen. Sie glaubt, die warme Feuchtigkeit unter den Händen spüren zu können.
Unter einem nahen Baum sitzt eine junge Frau auf der grünen Parkbank. Sie trägt ein kurzes dünnes Kleid und lässt sich eine plötzlich aufgetauchte Sommersonne ins Gesicht scheinen. Ihre Finger gleiten über die Beine, der Innenseite des Oberschenkels entlang zum Bauch, dann über die Brüste zum Hals. Schließlich streichelt die junge Frau ihr Gesicht, und die alte Frau tut es ihr gleich. Sie fragt sich, ob es sich gleich anfühlt, ist sich aber keiner Antwort gewiss.
Auf einem schmalen Weg gehen eine Frau und ein Mann am Haus vorüber. Die Frau schiebt einen Kinderwagen, an dessen Seite eine Kette mit bunten Holzkugeln hängt. Eine Kugel ist rot, mit schwarzen Punkten. Sie sieht aus wie ein Marienkäfer. Die Kette wippt im gleichen Takt wie der Pferdeschwanz der Frau. Der Mann hat eine sehr gerade, aufrechte Haltung, die ihm offensichtlich ungewohnt ist, aber durchaus erfreulich scheint. Die alte Frau starrt auf den hölzernen Marienkäfer und lächelt still.
Als das Paar nicht mehr zu sehen ist, taucht eine ältere Frau auf, geht ebenfalls auf dem schmalen Weg am Haus vorüber. Sie ist allein unterwegs, trägt einen Mantel, eine riesig wirkende Handtasche und einen Schal. Sie raucht mit zittrigen Händen und sieht sich um, als würde sie etwas suchen.
Dann sind die Menschen vor dem Haus wieder verschwunden, die Szenerie findet zurück zur Reglosigkeit. Die alte Frau ändert den Fokus ihres Blickes. Sie sieht ihr eigenes Gesicht, das sich in der Fensterscheibe spiegelt, während dahinter der Tag zusehends an Licht verliert. Zunächst bewegt sich der Blick stetig und rastlos, dann aber starrt sie sich genau in die Augen, minutenlang. Womöglich gibt es nichts anderes mehr zu sehen. Irgendwann beginnen die Lider zu zittern, das Bild verschwimmt und verblasst. Die alte Frau schließt die Augen.

oh, oh, Eine die das Leben ins Abseits drängte – alles ist noch da, nur für sie nicht mehr…
So sollte es nicht sein und doch beobachten wir es so oft…leider
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Für sie selbst ist alles wohl durchaus noch da, aber eben nicht mehr greifbar… vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni, und herzliche Grüsse…
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Wie Du alles miteinander assoziierst und verbindest, lese ich sehr gern. Immer wieder kommt die Einsamkeit hervor. Heute diskutierte im Supermarkt eine alte Dame jeden einzelnen Angebotspreis. Sie lernt die Angebotszettel, die in den Briefkasten geworfen werden, auswendig. Ich kenne diese Dame bereits. Schade, dass sie immer nur zum Reklamieren kommt…
Ich denke jedes Mal darüber nach, ihr ein dickes Kompliment für ihr geradezu phänomenales Gedächtnis zu machen, weil sie alles auswendig gelernt hat und sich die Preise besser behalten kann, als die Verkäuferinnen. Heute erst sah ich die Dame wieder. Sie ist furchtbar, finden alle. Ich finde sie einfach nur sehr einsam. Alle haben immer zu wenig Zeit füreinander. Leider auch ich…
Doch diese einsame Frau, das dachte ich schon oft, könnte sehr gut eine Deiner sehr wirklichkeitsgetreuen Geschichteheldinnen sein…
Liebe Grüße von der Fee
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Sie (die Dame im Supermarkt) klingt tatsächlich sehr einsam und traurig und wütend. Man fragt sich mitunter, was in derartigen Leben steckt, welche Geschichten da verborgen sind…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und fürs Teilen deiner Begegnung im Supermarkt….
Herzliche Grüsse!
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