Er pflanzt kleine Bäume an. Hainbuchen. Sieben Stück, jeweils im Abstand von zwei Metern. Er wässert alle Bäumchen gleich stark, jedes Bäumchen wird gleich lang von der Sonne beschienen, jedes ist in gleichem Masse Wind und Wetter ausgesetzt. Doch nur sechs Bäumchen entwickeln sich in ähnlicher Weise; nach einigen Monaten stehen nur sechs Bäumchen nahezu identisch auf der Wiese, hochgewachsen und gerade. Das siebte Bäumchen jedoch, es folgt wohl anderen Gesetzen. Die Äste sind krumm und seltsam knorrig, der junge Stamm windet sich in merkwürdigen Verrenkungen schräg nach oben. Es ist nur halb so hoch wie die restlichen Bäumchen, aber umso breiter. Es ist gar nicht sonderlich hässlich, aber es ist anders, es passt nicht in die Reihe, es macht die Symmetrie zunichte. Er steht vor seinen sieben Bäumchen und fragt sich, was er tun soll. Nach reiflicher Überlegung reißt er das unpassende Bäumchen aus und verpflanzt das äußerste der übrigen Bäumchen an die leer gewordene Stelle. Die Symmetrie ist wieder hergestellt.
Einige Monate stehen dann aber nur fünf Bäumchen nahezu identisch auf der Wiese. Das sechste Bäumchen breitet seine Ästchen weit aus und weist eine bemerkenswerte Schräglage auf. Erneut wundert und ärgert er sich, erneut reißt er das unpassende Bäumchen nach kurzem Nachdenken aus der Erde und verpflanzt das äußerste der übrigen Bäumchen an die leer gewordene Stelle. Die Symmetrie ist wieder hergestellt. Bald darauf wächst erneut ein Bäumchen aus der Reihe, das Prozedere wiederholt sich, aus fünf Bäumchen werden vier, aus vier Bäumchen werden drei, aus drei Bäumchen werden zwei.
Nach weiteren Monaten stehen die zwei Bäumchen, die längst Bäume geworden sind, nebeneinander. Keiner der beiden Bäume wächst senkrecht empor, beide Stämme winden sich konfus nach oben und sind einander deutlich zugeneigt. An einer Stelle treffen die Äste beider Bäume sogar zusammen und haben begonnen, spiralförmig miteinander zu verwachsen.
Er steht fassungslos vor den beiden verbliebenen Bäumen, schüttelt seinen Kopf, greift sich an selbigen. Dann eilt er ins Haus, holt seine Motorsäge und fällt kurzerhand beide Bäume. Auf den beiden Baumstümpfen befestigt er ein dickes Holzbrett und achtet peinlich darauf, dass es genau waagrecht ist, prüft mit der Wasserwaage nach. Dann ist seine Sitzbank fertig, ganz symmetrisch und ebenmäßig, nahezu perfekt. Er setzt sich hin, langsam und vorsichtig. Und dann schaut er sich um und kann nicht verstehen, weshalb er trotz allem nicht zufrieden ist.

Ach, hätt er ihn doch gelassen, den Eigenbrötler…
Er wollte halt nicht wie die anderen sein, er wollte sich unterscheiden.
Wozu denn alles gleich machen, keine Individualität mehr zulassen?
Langweilig wirds dann, einförmig und fantasielos
Liebe Abendgrüße von Bruni
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Das Bestreben, alle/s gleich machen zu wollen, es hat eine lange und unrühmliche Geschichte (die wohl kaum allzu bald zu Ende gehen dürfte, leider…). Ich mag die quer wachsenden Äste und schiefen Zweige zumeist lieber als jene, die in Reih und Glied stehen….
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni, und liebe Herbstabendgrüsse zurück…
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Sooo gehr es mir auch,lieber disputnik.
Das zu perfekte zeigt keinerlei Individualität mehr
Und manchmal gruselt es mich davor…
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Oh ja, manchmal ist’s tatsächlich gruselig… Herzliche Grüsse, liebe Bruni…
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Eine feine Parabel, lieber Disputnik!
Der Unzufriedenen gibt’s immer mehr,
und das, obwohl immer mehr Zufriedenstellendes heutzutage vorhanden ist…
Oder…
Das Lied vom übertriebenen Perfektionismus…
Herzliche Herbstgrüße vom Finbar
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Jaha, wahrscheinlich steigern sich Überfluss und Unzufriedenheit gleichermassen immer mehr…
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, lieber Finbar, und herzlichste Herbstgrüsse zurück…
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Dein Eintrag hat mich an diesen von mir erinnert:
https://finbarsgift.wordpress.com/2012/11/06/der-mann-der-baume-pflanzte-giono/
Wie ich finde, immer noch seeeehr hörenswert und auch sehenswert und im weiteren lesenswert, was Giono erfunden hat…
Vielleicht kennst du das ja noch nicht, denn dann stünde dir eine halbe Stunde reines Vergnügen bevor 🙂
Nachmittagsgrüßle!
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Ich kenne es tatsächlich (noch) nicht, aber es sieht wunderbar poetisch aus… Freue mich schon drauf – danke für den Tipp, lieber Finbar!
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Sehr schön metaphorisch.
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Vielen lieben Dank dir!
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