Michael Jackson ist tot, und sie hat ihn umgebracht. Dabei liebte sie ihn, damals in der Schule, wie die meisten anderen Kinder auch, er war so anders und so schön, er war so weit weg und doch so nah, er war kein Mensch und ließ sie trotzdem spüren, dass sie selbst ein Mensch war. Michael Jackson sang, und sie tanzte, allein in ihrem Zimmer, mit geschlossenen Augen betrat sie eine neue Welt, eine Bühne, die nur ihr gehörte, ihr und Michael Jackson.
Einmal lief ihr eine Ente zu, einfach so, sie war wohl ein wenig verletzt oder traurig, jedenfalls watschelte das Tier ohne Angst auf sie zu und blieb bei ihr, einige Tage lang, vielleicht sogar Wochen. Eines Morgens war sie verschwunden, die Ente, und niemand wusste, was geschehen war. Sie weinte, und die Eltern zuckten mit den Schultern, und sie weinte noch heftiger, und die Eltern zuckten noch heftiger mit den Schultern, und irgendwann hörte sie auf zu weinen.
Sie hängte ihn dutzendfach an die Wand, Michael Jackson in allen Posen, und auf jedem Bild blickte er sie an, sah ihr direkt in die Augen und dahinter, und so, wie sie alles über Michael Jackson wusste, wusste Michael Jackson alles über sie, jedes Geheimnis hatte sie ihm offenbart, jede Peinlichkeit hatte sie ihm anvertraut, und er blickte sie dennoch unentwegt an, mit wachen Augen, voller Vertrauen und Achtung und Offenheit und Wärme, und auch dafür liebte sie ihn.
Manchmal denkt sie, dass es die Ente gar nie gegeben hat, dass sie diese Episode lediglich erfunden hat, um sich ein Bild zu schaffen, mit welchem sie sich an die Vergangenheit klammern konnte. Womöglich war die Ente nur ein imaginärer Anker in der verlorenen Zeit, ein Buchzeichen in einem Roman, der ihre Geschichte erzählte und dabei näher an ihren Vorstellungen blieb als an der Wahrheit. Dann wieder spürt sie die Federn unter den Fingern, auch heute noch, nach all den Jahren.
Irgendwann verschwand Michael Jackson von ihren Wänden, er wurde lächerlich, mit seiner Locke in der Stirn und seinen seltsamen Jacken, mit seiner blassen Haut und der merkwürdigen Stimme. Er sang kaum mehr, und sie hörte auf zu tanzen. Sie presste die Augen zu, so heftig wie möglich, doch sie blieb dennoch allein in ihrem Zimmer.
Sie hatte der Ente einen geschützten Platz eingerichtet, hinter dem kleinen Gartenhaus, hatte trockenes Gras ausgelegt und einen kleinen Bottich mit Wasser gefüllt, und so oft wie möglich schaute sie nach, ob alles in Ordnung war. Als die Ente dann verschwand, pflegte sie die kleine Behausung weiterhin, wechselte regelmäßig das Wasser im Bottich und rückte behutsam das Gras zurecht. Sie tat dies jahrelang, obwohl sie irgendwann einsah, dass die Ente nicht zurückkehren würde. Erst als das Gartenhaus abgerissen wurde, gab sie auch das kleine Entenheim auf.
Trotzdem ist die Ente noch da, irgendwie, sie lebt hinter ihrem Brustkorb. Michael Jackson hingegen, Michael Jackson ist tot. Sie weiß nicht, warum sie es tat, ob es bei vollem Bewusstsein und in Absicht geschah oder ob sie selbst davon überrascht wurde. Vielleicht fühlte sie sich betrogen, vielleicht fühlte sie sich verraten, vielleicht war es lediglich ein Reflex, vielleicht auch nur der natürliche Lauf der Dinge. Jedenfalls ist Michael Jackson längst tot, und sie hat ihn umgebracht. Seither tanzt sie nur noch selten, und wenn sie es tut, hat sie den Eindruck, jede getanzte Bewegung sei eine Täuschung, eine Lüge.

Die Ente gab ihr ein stärkeres Gefühl, eines, das sich noch in der Erinnerung gut anfühlt und schmerzlich blieb der Verlust immer weiter.
Michael Jackson hatte seine Zeit gehabt, sie entfernte sich von ihm, immer weiter, auch die Zeit änderte sich und sie wurde erwachsen. ER hatte sie wohl nie wirklich in ihren Träumen berührt, so wie es die Ente konnte…
Ein feiner Text, lieber Disputnik, der Du hinter die Dinge schaust, hinter Gesichter, die mann/frau zur lesen kann, wenn man durch die Oberfläche dringt.
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Oh, vielen herzlichen Dank, liebe Bruni, deine Worte, sie freuen mich sehr, ebenso dein genaues Hinschauen…
Vielen lieben Dank dir und herzliche Grüsse!
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