Am Abend zuvor stand die Vase noch nicht auf dem Tisch. Sie weiß es ganz genau, zumindest glaubt sie, dass sie es ganz genau weiß. Sie starrt auf das kleine Gefäß, auf die abgesplitterte Kante, auf die trockenen Blumen, als wäre darin eine Antwort zu finden, eine Gewissheit zu erlangen. Doch die Vase steht einfach da, in ihrer sachlichen Banalität, steht auf dem Tisch, dort, wo sie am Abend zuvor noch nicht stand.
Überhaupt steht die Vase nie auf dem Tisch. In ihrer kleinen Welt, in der alle Dinge ihren Platz haben, ist der Platz der Vase auf der Kommode, unter dem großen Bild des Eiffelturms. Sie war noch nie in Paris, aber sie mag das Bild, und die Vase, sie passt gut hier an diese Stelle, darum steht sie jeweils hier. Nur an diesem Morgen nicht.
Normalerweise könnte sie ihren Mann fragen, ob er die Vase auf den Tisch gestellt oder zumindest etwas bemerkt hat, doch ihr Mann ist nicht da. Er ist im Ausland, für drei Tage, geschäftlich, eine Messe in Paris. Vielleicht besucht er sogar den Eiffelturm. Jedenfalls ist er zweifellos nicht da. Sie war die ganze Nacht allein im Haus. Und trotzdem steht die Vase heute Morgen auf dem Tisch, obschon sie am Abend zuvor noch an ihrem angestammten Platz zu finden war. Sie weiß es ganz genau. Zumindest glaubt sie, dass sie es ganz genau weiß.
Sie nimmt die Vase in die Hände. Sie wirkt schwerer als sonst, kälter, aber vielleicht täuscht dieser Eindruck. Sie trägt die Vase mit den trockenen Blumen zurück zur Kommode, stellt sie wieder unter das Bild. Sie tritt einen Schritt zurück und betrachtet die Anordnung der Dinge. Alles ist wie immer, so scheint es, gerade so, als wäre nichts geschehen. Dann mustert sie den Himmel über dem Eiffelturm. Und fragt sich, ob die Wolken schon immer so zahlreich waren.

Wer weiß, was da geschehen ist, wer oder was ihr da einen Streich spielt.
Wird sie vergeßlich, kann sich nicht mehr erinnern, oder möchte sie sich nicht erinnern, aber warum? Heute scheint alles irgendwie anders zu sein. Was ist geschehen? Sieht sie die Dinge heute mit anderen Augen? Wieso?
Lächelnde Grüße von Bruni
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Ja, manchmal können wir uns gewisse Dinge, die das Leben uns bietet/zumutet, nicht erklären… Manchmal ist das gut so, und manchmal macht das Angst…
Vielen Dank für deine Worte, liebe Bruni, und herzliche Grüsse…
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