Sie hat sich nicht abgemeldet, hat niemanden informiert, hat niemandem erklärt, wohin sie geht, weil sie dann hätte erklären müssen, weshalb sie dorthin geht, und das wäre ihr wohl kaum gelungen.
Von der verlassenen Anlage hatte sie durch Zufall erfahren; in einem Café hatte ein Mann einer Frau erzählt, dass er dort Fotoaufnahmen gemacht hatte, und sie war am Nebentisch gesessen und hatte gelauscht.
Früher war es eine psychiatrische Klinik, doch vor etwa zwei Jahrzehnten stellte sie den Betrieb ein und steht seither ungenutzt in der öden Landschaft, umgeben von weiten Feldern, Brachland.
Sie geht durch die staubigen Räume, vorbei an kaputten Betten und umgekippten Schränken, sie tritt auf Scherben und alte Tücher, und in jedem Winkel scheint sich die Stille in allen Fasern festgekrallt zu haben.
Immer wieder bleibt sie stehen, atmet tief ein und aus und stellt sich vor, dass die vergangene Zeit durch ihre Lunge zieht, gerade so, als ob die Geschichten noch immer in der grauen Luft hängen würden.
Sie legt sich auf ein Bett, dessen Matratze noch einigermaßen intakt wirkt, drückt ihre Arme ganz eng an ihren Körper und wartet, bis die Wärme fließt, dann schließt sie die Augen.
Zunächst bleibt alles schwarz und still, da ist lediglich das merkwürdige Gefühl, dass die Luft aufgeladen wird, mit einer spürbaren Energie, welche die kleinen Härchen auf ihren Unterarmen leicht zittern lässt.
Bald darauf hört sie erste Geräusche; ein Schlurfen hier, ein Surren dort, bisweilen ein Klappern, und dann tauchen erste Stimmen auf, meist ganz leise, oftmals nicht mehr als ein Wispern und Flüstern.
Sie presst die Augen etwas heftiger zusammen, und dann nimmt das Bild Formen an, das karge Nichts erwacht zum Leben, Farben werden intensiver, Konturen klarer, und schließlich sieht sie eine Person.
Es ist eine Frau, nicht mehr ganz jung, aber außerordentlich schön, mit warmen Augen und nahezu fleischigen Lippen; sie trägt einen weißen Kittel, und während sie näherkommt, fragt sie, wie es ihr denn heute gehe.
Sie zuckt mit den Schultern, kennt die Antwort nicht, sie weiß nicht, wie es ihr geht und warum dies eine Rolle spielt, und irgendwie erwartet sie, dass die Frau im weißen Kittel, offensichtlich eine Ärztin, es ihr sagen könnte.
Die Ärztin misst ihren Puls, legt eine warme Hand auf ihre Stirn, dann setzt sie sich auf das Bett und streichelt ihre Wange, unaufhörlich und ganz sanft, nicht wie eine Ärztin, eher wie eine Freundin.
Sie weiß nicht, weshalb sich die Tränen in den Augenwinkeln sammeln und schließlich über ihr Gesicht rinnen, und im ersten Moment erschrickt sie und zuckt heftig zusammen.
Zunächst brennen die Tränen auf der Haut, der Hals schmerzt, doch immer mehr weicht das Unbehagen einer tiefen Befreiung, das stille Weinen wird zum haltlosen Schluchzen.
Ihr Körper bebt und zittert, ihre Hände krallen sich an der Matratzenkante fest, sie spürt Erschütterungen in ihrem Innern, die Tränen tränken ihr Gesicht und die Augen hämmern in ihren Höhlen.
Die Ärztin umarmt sie, hält sie umklammert, und gemeinsam wippen sie hin und her, gleichmäßig, ganz langsam, die Zeit verharrt in der Schwebe, das Bett knarrt und ächzt im Takt, doch es ist ihnen egal.
Irgendwann lässt die Ärztin sie los, richtet sich auf, steht lächelnd vor dem Bett, und sie schließt wieder die Augen, atmet tief ein und aus, ein und aus, bis die Klänge allmählich verebben und die Farben schwinden.
Dann ist wieder alles schwarz und still, da ist lediglich noch das Gefühl, dass die Luft aufgeladen ist, mit einer spürbaren Energie, welche die kleinen Härchen auf ihren Unterarmen leicht zittern lässt.
Nach starren Minuten öffnet sie ihre Augen, ganz langsam und vorsichtig, ein wenig zaghaft, beinahe so, als laufe sie Gefahr, etwas Fragiles zu beschädigen.
Der Raum ist leer und stumm wie zuvor, aber wärmer, so scheint es, da ist weniger Grau und mehr Braun, ein einfallender Sonnenstrahl bemalt die Matratze.
Sie steht langsam auf und verlässt den Raum, in dem sie lag, tritt auf einen leeren Korridor und geht durch die staubigen Räume, vorbei an kaputten Betten, hin zum Ausgang und dann hinaus ins Freie.

Toll beschrieben, lieber Disputnik – den innigsten Wunschtraum, den nicht mal sie selbst kannte… sie hat ihn mit allen ihren Sinnen herbeigewünscht
LikeGefällt 1 Person
Vielen herzlichen Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und für deine Worte!
LikeGefällt 1 Person
Wirklich toll geschrieben! Erzählt gerade so viel, dass man doch nah dran ist, aber alles weitere der eigenen Vorstellung entspringt..
LikeGefällt 3 Personen
Sehr schön, dass du deine eigenen Vorstellungskräfte nutzen magst; freut mich sehr… Danke!
LikeGefällt 1 Person
Eine poetische Szene mit tiefer Intensität, und erstaunlich positiv 🙂 Kompliment!
LikeGefällt 2 Personen
Oh, vielen lieben Dank fürs Lesen und fürs Kompliment!
LikeLike