Man sollte doch. Man müsste doch. Aber man kann nicht.
Schon seine Füße. Wenn er steht und geht, beschreiben seine beiden Füße ein V. V wie Vogel, V wie Virus, V wie Vollidiot. Und dann geht er vorüber, die Füße ragen links und rechts wie irrgewachsene Äste aus seiner Route, und sein merkwürdig federnder Gang lässt ihn wie ein Stummfilmkomödiant wirken. Man sollte ihm seine Füße doch nachsehen können. Man müsste doch davon ablassen, die Augen zu rollen und die Stirn zu runzeln. Aber man kann nicht. Vielmehr stellt man sich vor, wie eine Häuserwand aus einer Stummfilmkulisse auf ihn niederfällt.
Dann seine Witze. Sie sind nicht witzig, seine Witze, niemand findet sie witzig, und die einzige Ausnahme von dieser Regel ist er selbst. Er findet seine Witze außerordentlich witzig, und er lacht über sie, wie man über außerordentlich witzige Witze eben lacht. Man hört sein Lachen, man hört auch das Echo seines Lachens, das von irgendwelchen fernen Bergwänden widerhallt. Und man sollte doch eigentlich milde lächeln. Man müsste doch einfach mit den Schultern zucken. Aber man kann nicht. Viel lieber würde man mit einem überdimensionalen Hammer auf seinen kantigen Schädel schlagen, wie Tom und Jerry oder Itchy und Scratchy. Das wäre dann auch ein bisschen witzig.
Und dann seine Stimme. Es gibt warme Stimmen und kühle Stimmen, kehlige und rauchige, feine und tiefe, vibrierende und schrille. Seine Stimme ist nichts dergleichen. Seine Stimme ist anders. Seine Stimme ist der Moment, in dem man auf die Raupe im Salat beißt. Seine Stimme ist das unablässige Schleifgeräusch von falsch eingestellten Bremsklötzen bei einem alten Fahrrad. Seine Stimme ist das konstante Rauschen eines Radiosenders, dessen Signal nicht klar genug empfangen wird. Nicht nur klingt seine Stimme widerlich, er macht auch pausenlos von ihr Gebrauch, redet und redet, schichtet Worte aufeinander und nebeneinander, ohne dass irgendetwas davon Belang hätte. Man sollte seine Stimme wohl dennoch annehmen, wie sie ist. Man müsste ihr doch unvoreingenommen lauschen können. Aber man kann nicht. Viel lieber würde man ihm ohne Vorwarnung Textilklebeband auf die schmalen Lippen pappen oder einen dicken Korkzapfen in die Sprechöffnung rammen oder seinen Hals mitsamt der Kehle doppelt verknoten.
Man sollte ihn doch einfach so akzeptieren, wie er ist, mit seinen Füssen und seiner krummen Statur, mit seinen humorbefreiten Witzen und seinem albernen Grinsen, mit seiner Stimme und seinem pausenlosen Geplapper. Man müsste ihn doch tolerieren, respektieren, wertschätzen. Ihn lieben wie alle Menschen, ihn so lieben, wie man sich selbst liebt. Aber man kann nicht. Er ist ja nicht böse, er ist nicht gemein, er ist nicht ruchlos oder schlecht. Man mag ihn einfach nicht. Und man mag sich selbst nicht sonderlich dafür, dass man ihn nicht zumindest ansatzweise mögen kann. Und man hat ein wenig Angst vor dem schlechten Gewissen, Angst vor dem Tag, an welchem irgendeine verrückte Seele Amok läuft und wild um sich schießt, die Kugeln fliegen und eine davon ist unterwegs zu jenem Punkt zwischen den eigenen Augen, und man hat schon die Finger am Lebenslichtschalter, doch kurz bevor man getroffen wird, kommt er, den man nicht mögen kann, und wirft sich mit seinen V-Füssen und einem debilen Grinsen in die Schussbahn und fängt die Kugel ab, und dann liegt er blutend auf dem Boden, und das letzte, was man von ihm hört, ist ein Witz, der nicht witzig ist, gefolgt von einem röchelnden Lachen, und dann ist er still, und man muss sich zwingen, ebenfalls zu lachen, endlich, wenigstens dieses eine Mal, das erste und letzte Mal, aus Respekt, mindestens. Aber eben, man hofft, dass es nicht soweit kommt.

Beim Lesen habe ich zuerst gedacht: und der Mann wird dann Präsident.
Was für eine Projektion, was für eine Täuschung!
Fehlt nur noch, dass dieser Präsident uns eines Tages das Leben rettet…
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Das würd ich doch bezweifeln 😉
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte (und für deine Projektion ebenso!)…
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oh,
und dann ist er es, den man nicht mag, obwohl man es möchte, aber die Abneigung ist zu groß, der einem das Leben rettet … und nun ist man dankbar und weiß nicht recht, wohin mit der Dankbarkeit…
Verzwickt ist es mit den Menschen, die einem absolut nicht sympatisch sind, denn man kann sich nicht dazu zwingen. Es geht einfach nicht
Deine Geschichten treffen tief, lieber Disputnik
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Ich danke dir ganz herzlich, liebe Bruni, dass du meine Geschichten so tief in dich hineinlässt; das freut und ehrt mich sehr…
Herzliche Grüsse und alles Liebe dir…
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Starke Geschichte. Vor ein paar Tagen erst las ich, weiß nicht mehr wo, über die Wünsche von Obdachlosen, die ja auch gern ausgegrenzt werden, weil sie „anders“ sind. „Ich wünsche mir, als Mensch gesehen zu werden“, das war einer der Wünsche, die immer wieder auftauchten. Die hier, die Figur in deiner Geschichte, die braucht es auch – gesehen zu werden und jemanden, der ihn mal in den Arm nimmt und mit ihm spricht. Jedenfalls ist das mein Gefühl dazu.
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Hmmja, wir sehen wohl häufig vor allem das Bild, das wir uns selbst von einem Menschen machen, und nicht das, was der Mensch tatsächlich ist… Auf der anderen Seite frag ich mich halt auch oft, warum gewisse Menschen einfach unsympathisch wirken und ungute Gefühle auslösen, obschon sie nichts Böses tun…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken, und herzliche Grüsse…
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Spannend, lieber Schreibfreund!
Ich frage mich sowieso manchmal, was das für Menschen sind, die einen Job als Bodyguard annehmen, und sich dann im Ernstfall WIRKLICH zwischen der zu schützenden Person und dem Schützen werfen, ihr eigenes Leben für jemand anderen wegwerfen…
Liebe Dezembergrüße vom Finbar
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Oh ja, es sagt einiges über die Menschen aus, dass das Leben gewisser Individuen so viel mehr wert ist als jenes von anderen… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und liebe Grüsse zurück…
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Das war aber schon immer so, lieber Disputnik,
zu Zeiten der alten Griechen wie Römer und im Mittelalter sogar der katholischen Kirchenvertreter und heutzutage der Politiker und Wirtschaftsbosse und Milliardäre, Millionen langen ja schon nicht mehr…
Liebe Dezembergrüße vom Finbar
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Hmmja, die Sache mit dem Lernen hat der Mensch wohl auch nicht durchdringend begriffen, könnte man meinen…
Herzliche Dezembergrüsse zurück, lieber Schreibfreund…
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Genauso ist es, lieber Schreibfreund, er ist unfähig, die wirklich wichtigen Dinge zu lernen, zum Beispiel keine Kriege zu führen…
Liebe Abendgrüße vom Finbar
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