Manche Menschen tragen ihr Herz in den Augen, vor allem, wenn es schwer ist. Sie war ein solcher Mensch. Ihre Blicke erzählten traurig-trübe Geschichten, die womöglich gar keine richtigen Geschichten waren, höchstens Fragmente, Skizzen. Aber was sind schon richtige Geschichten? Manchmal reichen sechs Wörter, um eine Geschichte zu erzählen. Und ihre Blicke brauchten nicht einmal Wörter.
Einmal erzählte ihr Blick davon, dass ihr Vater ums Leben kam, als sie ein kleines Mädchen war. Ein anderes Mal erzählte ihr Blick, dass ihr Vater sie sexuell missbraucht hatte, bis sie noch als Teenager aus dem Elternhaus auszog. Dann wieder erzählte der Blick von einer Kindheit im Waisenhaus. Man wusste nicht, welche Geschichte der Wahrheit entsprach oder zumindest in deren Nähe lag und welche nicht, und wahrscheinlich waren alle drei unwahr, doch man war überzeugt, dass es solche Geschichten waren, die ihre Blicke so schwer machten, dass sie immer wieder zu Boden fielen.
Man versuchte, die Blicke zu deuten, die Geschichten nachzuerzählen. Man erzählte sich die Geschichte von leeren Abenden in einer kalten Wohnung, die Geschichte von der verlorenen Zeit der Jugend, die Geschichte vom Kampf gegen eine unheilbare Krankheit, die Geschichte von ungetragenen Babyschuhen. Doch nie fragte man sie nach diesen Geschichten. Man wollte ihr ja nicht zu nahe treten. Und man wusste gar nicht genau, ob man sie damit schonen und schützen wollte. Oder nur sich selbst.
An manchen Tagen schienen die Augen zu schwimmen, dann wieder erfroren und erstarrt in eiskalten Höhlen zu hocken, und ziemlich häufig ging man ihren Ablenkungsmanövern auf den Leim. Manchmal war es ihre Stimme, die laut und lustig über Banalitäten sprach und damit die Aufmerksamkeit auf sich zog. Manchmal war es eine gewisse Betriebsamkeit, die ihren Augen gar keinen Platz ließ, um Geschichten zu erzählen. Manchmal war es auch lediglich ein buntes Kleid oder eine neue Frisur. Sie war gut darin, den Fokus umzulenken, war eine gute Schauspielerin. Trotzdem blieben die Geschichten in ihren Augen und drückten den Blick zu Boden.
Man dachte immer wieder daran, sich zu erkundigen, ein Gespräch anzubahnen, das eventuell zu den Geschichten führte. Doch man tat es nie. Und dann, eines Tages, war sie verschwunden, ohne Ankündigung, ohne Abschied. Sie war einfach nicht mehr da. Und ihr Verschwinden, das ist eine weitere Geschichte, die letzte Geschichte über sie, die man nicht wirklich kennt.

Das, was deine Augen erzählen,
kann so ganz anders sein als das,
was du erzählst,
was du von dir preisgeben magst
Doch dein Blick trügt uns nicht,
wir sehen darin die unendliche Taurigkeit,
die dich zu Boden drückt
Aber du versteckst sie gut
Du willst nicht von ihr erzählen,
du gibst dich nicht preis
Obwohl du lachst,
scheinbar von Herzen lachst,
ist da ein Ton,
der zu deinen Augen passt
und uns
läßt du unsere Mutmaßungen…
Liebe Grüße von Bruni
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„Obwohl du lachst,
scheinbar von Herzen lachst,
ist da ein Ton,
der zu deinen Augen passt…“
Wie unvergleichlich wunderschön beschrieben, in Worte gekleidet und weitergedacht, vielen vielen Dank, liebe Bruni! Und herzliche Grüsse zurück…
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Es war mir ein Bedürfnis, lieber Disputnik
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Schön, dass du diesem Bedürfnis nachgegeben hast, liebe Bruni…
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Eine tolle, berührende Studie zum Thema Blick und was er im passiven Sinn entlarven oder auch verbergen kann. Gott sei Dank gibt es aber auch die anderen Blicke, mit denen man aktiv angeschaut wird, die mir etwas über mich sagen, die mich meinen und die mir sagen: ich nehme dich wahr, ich liebe dich!
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Oh ja, diese Blicke sind wertvoll, sehr, doch manchmal wiederum ist man kaum in der Lage, diese wahrzunehmen; man wird aktiv angeschaut und blickt selbst meistens zu Boden. Umso schöner, wenn man diese Blicke begreifen und annehmen kann… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Wir über die anderen so viel wie sie uns von sich zu zeigen gewillt sind. Solche Blicke wie diejenigen, die Du zeichnest, halten etwas zurück, das so offensichtlich zutage liegt, dass es bis zuletzt verborgen bleibt als Abwendung an das Mögliche im vorsorglichen Verleugnen eines Wiedererkennens. So schafft das Vertraute das Unvertrauen, in seiner Vergangenheit, deren Schatten den Vorhang der Pupille nur noch wie zufällig streifen, doch dies wie die tausend Gitterstäbe des Pantherkäfigs vom Herrn Rilke. Und dabei ist Zufall nur ein anderes Wort für die Fügungen im Leben.
Liebe Grüße
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Und du zeichnest zu der Geschichte über die Geschichten weitere Geschichten… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für die verflochtenen Wortwunder… Herzliche Grüsse zurück
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