Wenn sie ehrlich mit sich ist, klappt die Sache mit dem Glücklichsein vor allem dann, wenn sie die Augen schließt. Aber Dina ist nicht sonderlich gut darin, ehrlich mit sich zu sein.
Am Anfang ist alles schwarz. Dann rötlich, ein dunkles Orange vielleicht. Dann kommen die Bilder.
Dina kennt die Frau nicht, und dennoch wirkt sie seltsam vertraut. Sie sitzen sich gegenüber, an einem großen Tisch. Sie sind wahrscheinlich die einzigen zwei Menschen in dieser riesigen Bibliothek, diese Frau und sie, zwischen Tausenden von Büchern, zwischen Millionen von Wörtern, zwischen Milliarden von Buchstaben.
Die Frau studiert ein Sachbuch, dick und großformatig; Dina kann nicht erkennen, wovon es handelt. Schwarze Locken rahmen ein fahles Gesicht ein, mit zarten Linien und zurückhaltenden Konturen, ein Gesicht wie eine Schneelandschaft, und mittendrin zwei Höhlen, zwei Augen, schwarz und endlos tief. Sie trägt eine helle Bluse, ein wenig zerknittert, aber passend. Die oberen Knöpfe sind geöffnet, im Dekolletee deuten sich die Rundungen der Brüste an, die Haut ist hell und rein. Beim Halsansatz verläuft eine lange Narbe schräg nach unten und zerstört die Illusion der Unschuld und Vollkommenheit. Was ist geschehen? fragt Dina sich. Welche Geschichte erzählt diese Narbe, diese Frau? Als sie feststellt, dass sie die Frau anstarrt, zuckt Dina leicht zusammen. Beim hastigen Wegsehen streift ihr Blick kurz die schwarzen Augen, und Dina muss erkennen, dass die Frau ihr Starren längst registriert hat. Doch sie scheint nicht irritiert zu sein; die Frau lächelt, nicht unbeholfen oder belanglos, sondern beinahe greifbar echt und von aufrichtiger Tiefe. Dann entspannen sich die Gesichtszüge, und sie sehen sich einfach in die Augen, regungslos, sekundenlang, jahrelang. Man erkennt die bedeutsamen Momente, denkt Dina. Man merkt, wie sich das Gefüge leicht verschiebt. Ein Beben. Ansonsten denkt sie nichts.
Irgendwann räuspert sich die Frau, steht auf und geht zu den Regalen. Dina sieht ihr nach, mustert die dunklen Locken, den schmalen Rücken, den kurzen Rock und die nackten Beine. Die Frau bleibt stehen und dreht ihren Kopf, blickt zu ihr hin und lächelt erneut. Dann verschwindet sie hinter der Bücherwand.
Dina wartet eine Minute, dann steht sie ebenfalls auf und bemüht sich, so zu wirken, als müsse sie ein bestimmtes Buch suchen. Vorsichtig geht sie den langen Regalen entlang, schleicht durch die Gassen und lässt den Blick über Buchrücken schweifen, ohne ein Wort zu lesen. Immer weiter dringt sie in das Geäst der Bibliothek vor, immer tiefer hinein in die Welt der Bücher. Als Dina ein weiteres Mal in eine Regalgasse einbiegt, steht die Frau einfach da, still und schweigend und klar, mit dem Rücken an die Regalwand gelehnt.
Zunächst verharrt Dina, dann nähert sie sich der Frau, zaghaft und langsam, als wäre sie ein wildes Tier. Sie stellt sich neben die Frau hin und betrachtet die Bücher im Regal. Die Namen und Titel ergeben keinen Sinn, kein Wort hat eine Bedeutung, alle scheint in fremder Sprache geschrieben. Sie wendet sich der Frau zu. Wieder dieses Lächeln. Wieder dieses Beben. Sie stehen sich gegenüber, ganz nahe, immer näher.
Als die Frau ihre Hand hebt und Dinas Wange berührt, zuckt sie zusammen. Die Haut in ihrem Gesicht fühlt sich anders an als sonst, verletzlich und kräftig zugleich. Die Frau streichelt ihre Schläfen, lässt ihre Finger hinter das Ohr gleiten, dann zum Hals. Dina weiß nicht, wie sie sich verhalten soll, ob sie einen Schritt zurück oder näher zur Frau treten soll, also bleibt sie einfach stehen. Die Finger wandern weiter, schieben sich unter den Stoff ihres Shirts und wieder hervor. Behutsam lässt die Frau ihren Daumen immer wieder über Dinas Brustwarze stolpern, während sich die andere Hand zu ihrer Hüfte bewegt. Dina blickt auf die vollen Lippen der Frau, die sich ganz langsam öffnen und wieder schließen. Kein Wort ist zu hören, kein Laut. Da ist nur das Beben.
Später sitzen sie auf dem Boden in der Regalgasse, Dina lehnt ihren Rücken an den Oberkörper der Frau und spürt, wie sich ihr Oberkörper langsam hebt und senkt. Eine Hand ruht auf ihrem Bauch, die Fingerspitzen beschreiben kleine Kreise auf der Haut. Nachbeben.
Dann hören die Bilder auf. Alles wird schwarz. Und Dina öffnet die Augen wieder.
Sie kniet auf dem kahlen und kalten Boden, nackt und ungeschützt, die Hände in den Schoss gebettet. Langsam blickt sie sich um, betrachtet die Dinge im stummen Raum. Alles ist wie immer. Nichts hat sich verschoben. Da war kein Beben. Sie hebt eine Hand zum Hals, die Finger suchen die Haut ab, doch da ist nichts. Keine Narbe, keine Geschichte. Warum sollte da etwas sein? Sie schließt die Augen erneut, presst die Lider zusammen. Am Anfang ist alles schwarz. Dann rötlich, ein dunkles Orange vielleicht. Doch die Bilder, sie kehren nicht mehr zurück.
