Ungespielt.

Da wohnt niemand mehr, da klammert sich nur noch der Staub der vergangenen Zeit an die Dinge, da trägt jeder Widerhall nur noch ein ewiges Schweigen mit sich. Das Pulsieren ist vorbei, der Fluss ist ausgetrocknet, alles ruht. Irgendwo steht ein Klavier, doch wenn niemand mehr die weißen und schwarzen Tasten drückt, erklingt kein Ton … Weiterlesen Ungespielt.

Altpapier.

Sie wohnte im großen Backsteinhaus am Ende der Straße, in diesem unförmigen Brocken mit breiten Wänden und riesigen Fenstern. Hin und wieder sah er sie, wie sie auf hohen Schuhen über den Asphalt ging, ruhig und beinahe schwebend. Sie war schlank, ihr Rücken außergewöhnlich gerade, die hellen Haare flossen in sanften Wellen ihrem Gesicht entlang, … Weiterlesen Altpapier.

Die alte Kälte.

Man mag ihn nicht, hat ihn nie gemocht. Vielleicht hat man es zu Beginn noch versucht, aber nie wirklich geschafft, und irgendwann hat man dann wohl aufgehört, es überhaupt in Betracht zu ziehen. Man hat sich damit abgefunden, dass man gewisse Menschen liebenswert oder sympathisch findet, er aber nicht zu diesen Menschen zählt. Die Abneigung, … Weiterlesen Die alte Kälte.

Tollwut.

Normalerweise fährt er weiter. Zwar betrübt ihn der Anblick, selbst wenn er nur eine Sekunde währt, doch er hält nicht an. Das arme Tier, denkt er vielleicht, und manchmal fühlt er sich böse, obwohl nicht er es war, der das Geschöpf zu Tode fuhr. Er hat noch nie ein Lebewesen überfahren. Aber es könnte geschehen, … Weiterlesen Tollwut.

Morgendliche Frage.

Hast du gut geschlafen? Er stellt ihr diese Frage jeden Morgen. Manchmal sagt sie Ja. Manchmal sagt sie Nein. Manchmal beschreibt sie die Qualität des Schlafes ausführlich. Manchmal bleibt sie einsilbig. Unabhängig davon, was sie ihm antwortet, reagiert er mit einem Nicken. Dann zuckt er mit den Schultern und murmelt etwas, das wie ein Summen … Weiterlesen Morgendliche Frage.

Flüchtling.

Herr Talpa war eigentlich ganz glücklich. Er hatte sich ein schönes Heim geschaffen, weit verzweigt und durchaus stabil, mit mehreren Ausgängen und zahlreichen Rückzugsmöglichkeiten. Es war vielleicht nicht viel, aber es war ein Zuhause, und Herr Talpa kannte nur wenige Worte, die schöner waren. Manchmal, wenn er auf Artgenossen traf, erzählte er beinahe übermütig von … Weiterlesen Flüchtling.

Begegnung an einem Sonntag.

Der Pfarrer steht neben dem Altar und sieht aus wie ein Rockstar, die Haare sind wild und jugendlich frech frisiert, das Gewand beeindruckt durch eleganten Schnitt und zeitlose Farben, und sein Gebaren, es ist von ungeahntem Ausdruck, eine tiefe Leidenschaft wird deutlich, sein Vortrag wäre überzeugend, vielleicht sogar berauschend, wenn er jemanden interessieren würde, doch … Weiterlesen Begegnung an einem Sonntag.

Er steigt aus.

Zuerst glaubt er, ein leises Rauschen zu hören, als würde Luft aus einem Fahrradreifen entweichen. Es kommt nicht von draußen, es ist nur in seinem Kopf, denn wenn der Mann die Handflächen fest auf seine großen Ohren drückt, bleibt das Geräusch unverändert. Er wird ein wenig unruhig, blickt sich vorsichtig um, doch die anderen Passagiere … Weiterlesen Er steigt aus.

Schmelzwasser.

Sie fragt sich, was wohl geschehen würde, wenn ihr Platz dereinst leer bliebe, ihre Spuren nirgends mehr hinführten. Sie fragt sich, wer sich wundern und wer nach ihr fragen würde, wer enttäuscht wäre, sie nicht anzutreffen. Sie fragt sich, wann man ihr Fehlen bemerken würde und ob es überhaupt ein Fehlen wäre oder nicht nur … Weiterlesen Schmelzwasser.

Einhorn.

Selbst wenn immer wieder ein Sturm im Wasserglas tobt, spielt es irgendwann keine Rolle mehr, ob es halbvoll oder halbleer ist. Am Ende ist es ausgetrunken, der grimmige Barkeeper hat längst die Stühle auf die Tische gestellt und draußen wartet die Nacht. Am Ende ist es egal, wie lange man das Einhorn gejagt hat. Kein … Weiterlesen Einhorn.

Ein Sturm zieht auf.

Die Wolken breiten sich aus, dunkel und mächtig, erfüllt mit brodelndem Zorn. Wie hungrige Kreaturen verschlingen sie den Himmel, verschlingen das Licht. Es war ein erstaunlich ruhiger Tag, angenehm warm und beinahe windstill, da war nur ein laues Lüftchen, das Wolkenfetzen über den blauen Himmel schob. Eine dumpfe Stille hing im Geäst der Bäume und … Weiterlesen Ein Sturm zieht auf.

Garstige Dinge.

Die Melodie ist vergleichsweise simpel, eine Reihe von einzelnen Tönen, gespielt auf einem Klavier, unaufgeregt, sanft, und vielleicht liegt gerade in dieser relativen Einfachheit der Schlüssel zur uneingeschränkten Klangschönheit, die sich tief in ihn hinein zu tasten scheint. Er hört die Musik nicht zum ersten Mal, keineswegs, er hat sie ziemlich häufig im Ohr, doch … Weiterlesen Garstige Dinge.

Ohrenbetäubend still.

Da war dieser Mann, der Kaffee trank, wie jeden Tag, eigentlich nichts Außergewöhnliches, eher Gewohnheit als Genuss, der Kaffee sah aus wie immer, schmeckte wie immer, doch als die Tasse leer war, blieben auf deren Boden braune Kaffeeresten zurück. Braune Kaffeeresten sind relativ häufig und wären auch an jenem Tag kaum bemerkenswert gewesen, hätten sie … Weiterlesen Ohrenbetäubend still.

Olaf und die egoistischen Feiglinge.

Er war doch so lustig, er war doch so gut. Jetzt ist er tot. Nun nennen sie ihn einen traurigen Clown, eine tragische Figur, ein einzigartiges Genie, einen großen Menschen. Und manche nennen ihn einen Feigling. Einen selbstsüchtigen, egoistischen Feigling. Weil er nicht an Krebs gestorben ist, nicht bei einem Verkehrsunfall, nicht bei einem Flugzeugabsturz. … Weiterlesen Olaf und die egoistischen Feiglinge.

Abhandenkommen.

Irgendwann werde ich nicht mehr da sein, sagt sie, und man kann kaum überrascht sein, auch wenn man leer schluckt und erfolglos nach Worten ringt. Es ist eine biologische Tatsache, unabwendbar und nachvollziehbar, außerdem kenn man den Satz seit Jahren, Jahrzehnten, hört ihn immer wieder aus ihrem Mund, manchmal seltener und beiläufiger, manchmal häufiger und … Weiterlesen Abhandenkommen.

Großmutter ist müde.

Genug ist genug, sagt die Großmutter, ich bin müde, ich bin lebensmüde, und dann lacht sie kurz und wirkt dabei wie ein Kind, sie mag die Doppeldeutigkeit von Lebensmüdigkeit, auch ist sie gern amüsiert, das war schon immer so, sie war stets ein ziemlich fröhlicher Mensch, trotz allem, neben den Narben immer die Lachfalten, doch … Weiterlesen Großmutter ist müde.

Drei belanglose Sätze.

Es ist wohl belanglos, doch womöglich auch nicht, ihr ist sehr häufig schwindlig, vielleicht stimmt etwas mit dem Kreislauf nicht, vielleicht sollte sie zum Arzt, vielleicht ist sie ernsthaft krank, vielleicht ist sie auch einfach unterzuckert oder übermüdet, doch eben, vielleicht auch nicht, und sie hat Angst davor, tatsächlich zu erkranken, sie hat Angst vor … Weiterlesen Drei belanglose Sätze.

Die Lüge der Zeit.

Manchmal hört er die alten Lieder. Einige klingen seltsam dumpf, als spielte man sie in einer Höhle oder unter einer Decke. Andere hingegen hallen im Innern wieder, der ganze Körper ist ein Resonanzkasten, alles ist so präsent, so gegenwärtig. Musik, wie auch Filme oder Bücher oder Bilder, sie altern nicht linear und gleichmäßig. Er ist … Weiterlesen Die Lüge der Zeit.