Manchmal hört er die alten Lieder. Einige klingen seltsam dumpf, als spielte man sie in einer Höhle oder unter einer Decke. Andere hingegen hallen im Innern wieder, der ganze Körper ist ein Resonanzkasten, alles ist so präsent, so gegenwärtig. Musik, wie auch Filme oder Bücher oder Bilder, sie altern nicht linear und gleichmäßig. Er ist erstaunt, wie jung einige Lieder klingen, die er damals hörte, als er selbst noch jung war. Und er ist erstaunt, wie alt die Leute geworden sind, die damals, als er die Lieder hörte, noch jung waren.
Einst besuchte er eine Psychiaterin. Sie fragte ihn, wie alt er sei, und er sagte es ihr. Dann fragte sie, wie alt er sich fühle, und er sagte ihr auch das. Darauf erwiderte sie, dass dies nicht stimmen könne, er solle sich die Frage nochmals ganz genau überlegen. Er tat es und nannte das gleiche Alter noch einmal. Wieder schüttelte sie den Kopf und ließ ihn wissen, dass sie ihm nicht glaube. Er zuckte mit den Schultern und ging fortan zu einer anderen Psychiaterin.
Hin und wieder denkt er an jenen Moment, in welchem er zum letzten Mal in einem Bett liegen wird. Ein weißes Bett vor weißer Wand, mit weißen Laken und weißem Kissen, denn man stirbt nicht in blaurotkariert gemusterten Stoffen, man stirbt ganz weiß und rein und sauber, umgeben vom kaum wahrnehmbaren Duft von unparfümiertem Waschmittel und einem Geruch, der schon seit Jahren in jeder Ritze steckt. Er fragt sich, ob man am Ende aller Tage, wenn der letzte Atemzug an der Endstation eintrifft, alles glaubt oder gar nichts mehr.
Kürzlich las er ein Buch. Darin ging es nicht nur, aber auch darum, wie die Erwachsenen die Kinder nicht verstehen. Wie Kinder Kinder sein wollen und die Erwachsenen die daraus entstehende Welt nicht zu respektieren wissen. Wie Kinder in der Folge nicht mehr Kinder sein wollen und die Erwachsenen jeden Ausbruch unter Strafe stellen, mit einer Legitimation, die sie Recht oder Moral nennen. Und er fragt sich, ob die Erwachsenen vielleicht nicht nur die Kinder nicht verstehen. Sondern auch die Erwachsenen. Er versteht die Erwachsenen jedenfalls häufig nicht.
Er erinnert sich an einige Sätze in jenem Buch, geschrieben aus der Sicht eines Achtjährigen. Der Regen macht Geräusche. Es klingt wie Shhh. Das ist Gott, der uns sagt, wir sollen still sein. Er glaubt nicht an Gott. Doch dann denkt er daran, wie ihn seine Mutter damals, als er sich vor dem Donner fürchtete, beruhigte und sagte, das sei Gott, der mit einem schweren Wagen über den Himmel fahre. Heute weiß er, dass sie gelogen hatte, damals an seinem Bett. Doch er nimmt es ihr nicht übel. Irgendwie würde er gerne häufiger belogen werden.

Hat dies auf ilseluise rebloggt und kommentierte:
„Hin und wieder denkt er an jenen Moment, in welchem er zum letzten Mal in einem Bett liegen wird. Ein weißes Bett vor weißer Wand, mit weißen Laken und weißem Kissen, denn man stirbt nicht in blaurotkariert gemusterten Stoffen, man stirbt ganz weiß und rein und sauber, umgeben vom kaum wahrnehmbaren Duft von unparfümiertem Waschmittel und einem Geruch, der schon seit Jahren in jeder Ritze steckt. Er fragt sich, ob man am Ende aller Tage, wenn der letzte Atemzug an der Endstation eintrifft, alles glaubt oder gar nichts mehr.“
BEWEGEND 🙂
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DANKE!
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für mich liest es sich eher, als bräuchte der junge trost, anstatt lügen.
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Vielleicht, vielleicht auch nicht, und manchmal ist Trost nichts anderes als eine Lüge, wenn auch mit guten Absichten… Vielen Dank fürs Lesen…
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Manche Lügen sind schöner als die Wahrheit, nicht wahr? Auch deshalb schreibe ich…
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Ja, Lügen lassen (auch und vor allem) beim Schreiben wohl einiges mehr an Freiraum zu als die Wahrheit… Vielen Dank, dass du liest. Und schön und gut, dass du schreibst…
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🙂
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