Die Melodie ist vergleichsweise simpel, eine Reihe von einzelnen Tönen, gespielt auf einem Klavier, unaufgeregt, sanft, und vielleicht liegt gerade in dieser relativen Einfachheit der Schlüssel zur uneingeschränkten Klangschönheit, die sich tief in ihn hinein zu tasten scheint. Er hört die Musik nicht zum ersten Mal, keineswegs, er hat sie ziemlich häufig im Ohr, doch heute löst sie etwas aus, etwas anderes als sonst. Sie weckt Erinnerungen. Das ist wenig überraschend, Musik kann das, Musik kann sich an Momente haften, an Menschen sogar, an Gesichter und Geschichten, an Bewegungen und Begegnungen, sie kann sich mit diesen verknüpfen, sie abrufbar machen. Doch jetzt hört er dieses Stück, Tomorrow’s Song von Ólafur Arnalds, und es erinnert ihn an eine Freundin, an damals, als sie eine junge Frau war, er denkt an die letzten Tage ihres kurzen Lebens und weiß, dass es längst zu Ende war, als das Musikstück geschrieben wurde, das ihn nun an sie erinnert.
Er geht durch einen Herbstmorgen, der den Tag noch scheut, zieht Schneisen in die kühle und klare Luft; über Kopfhörer gelangt die Musik von Ólafur Arnalds in sein Ohr, und in Gedanken ist er bei einem anderen Morgen. Es war wärmer damals, es war Sommer, und sie hockten in jener Bar, die immer geöffnet schien und morgens um fünf Uhr jeweils die letzte Zuflucht blieb, bevor die Nacht verstarb. Sie waren zu dritt, seine zwei zur damaligen Zeit besten Freundinnen und er. Die Nacht war schlaflos geblieben, doch jede Minute hatte das Wachsein verdient, das Leben, es war ganz nah und unmittelbar, und nun waren sie da, in jener Bar, tranken Kaffee und knabberten trockenes Gebäck. Irgendwann stolperte ein Betrunkener zu ihnen hin, setzte sich an den Tisch, begann zu nuscheln und wurde alsbald ziemlich angriffig. Er schnalzte wiederholt mit der Zunge und nickte den beiden jungen Frauen vielsagend zu, dann lallte er, dass er einfach nicht begreifen könne, warum sie beide kurze Haare hatten. Sie könnten doch so hübsch sein, aber die Haare, nein, die wären ganz fürchterlich. Niemand am Tisch hatte Lust, es ihm zu erklären. Während der Betrunkene beständig weiterredete, saß er reglos gegenüber, wütend und müde. Er wollte seine Freundinnen beschützen, in jenem Moment vor allem jene mit den millimeterkurzen Haaren, die gerade wieder zu wachsen begonnen hatten. Er wollte sie retten. Vor dem aufdringlichen Gast und vor all den garstigen Dingen der Welt. Doch seine Freundin musste an jenem Morgen nicht gerettet werden. Sie blickte den Betrunkenen direkt an und sagte mit ruhiger Stimme, dass die Haare so kurz wären, damit sie nicht von irgendwelchen Deppen blöd angemacht würde. Vielleicht verstand der Mann den Wink, vielleicht auch nicht, jedenfalls stand er auf und torkelte davon, hin zum nächsten Tisch. Und sie saß da, die Hände um die Kaffeetasse gelegt, ein Lächeln im runden Gesicht, wunderschön und mutig und stark.
Er lauscht den perlenden Tönen, dem warmen Klang des Klaviers, und erinnert sich an diesen Morgen in der Bar, erinnert sich an das Sitzen im Gras, an die langen Gespräche, an das Lachen und das Weinen. Er denkt an ihre hellen wilden Locken und an die glatte Haut, die sie zurückließen, als sie ausgefallen waren. Er denkt daran, wie er und alle anderen Freunde sich als Knochenmarkspender registrieren ließen, wie sie gemeinsam in den kühlen Räumen eines Krankenhauses hockten und es mit Wärme und Gelächter füllten. Er denkt an das letzte Gespräch mit ihr, wie es tatsächlich war, und überlegt sich zum wiederholten Male, wie es hätte sein sollen. Er denkt an ihr Gesicht, voller Leben und Wahrhaftigkeit, und daran, wie es irgendwann gelblich und aufgedunsen wurde. Er hatte sie retten wollen. Vor dem aufdringlichen Gast an jenem Abend und vor all den garstigen Dingen der Welt.
Als das Stück zu Ende ist, bleibt er kurz stehen und drückt auf dem tragbaren Musikabspielgerät die Zurück-Taste, um es noch einmal zu hören. Das Bild des kühlen Morgens ist verschwommen, und er blinzelt. Dann geht er weiter.

Wer so etwas schon mehrmals im Freundeskreis erlebt hat, weiß, wie sehr dieser Text zu Herzen geht.
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Tut mir sehr leid (das Erlebenmüssen, nicht das Zuherzengehen). Vielen Dank, von Herzen, fürs Lesen und für deine Worte…
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„Die Nacht war schlaflos geblieben, doch jede Minute hatte das Wachsein verdient, das Leben, es war ganz nah und unmittelbar…“ – was für ein schöner, spürbarer Satz!
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Vielen Dank, liebe Candy! Es waren wohl auch schöne, spürbare Stunden…
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