Genug ist genug, sagt die Großmutter, ich bin müde, ich bin lebensmüde, und dann lacht sie kurz und wirkt dabei wie ein Kind, sie mag die Doppeldeutigkeit von Lebensmüdigkeit, auch ist sie gern amüsiert, das war schon immer so, sie war stets ein ziemlich fröhlicher Mensch, trotz allem, neben den Narben immer die Lachfalten, doch nun reicht es, genug ist genug, sagt sie, aber sie blickt nicht entschlossen oder zielstrebig, sondern traurig und entmutigt, denn sie weiß, dass Lebensmüdigkeit eben nicht reicht, nicht ausreicht, dass dieses Ziehen einer Bilanz und das Sehnen nach einem Abschluss nicht Grund genug ist, um sich in den Tod begleiten zu lassen, und obwohl sie Mitglied einer entsprechenden Organisation ist, lässt man sie nicht gehen, weder die Hüter von Recht und Gesetz noch jene Menschen, die ihr am nächsten sind oder sein sollten, und ihr Sohn fragt, was sollen denn bloß die Kinder denken, woraufhin die Großmutter ihn mit ihren glasigen Augen anblickt, sie kennt die Antwort, ihre Antwort, doch sie schweigt, wie so oft, und zuckt lediglich mit den Schultern.
Genug ist genug, sagt die Großmutter, ich bin müde, ich will gehen, bitte helft mir, und man hört sie, doch man hört ihr nicht zu, was sollen denn bloß die Kinder denken, fragt der Sohn, ohne auf eine Antwort zu warten, und sie zuckt nicht einmal mehr mit den Schultern, sie zieht Bilanz und dann die Türe hinter sich zu und steigt die Treppen hinauf zum Dachboden.
Genug ist genug, sagt die Großmutter, ich bin müde, und doch, so sollte es nicht sein, sie ist allein auf dem Dachboden, Staubfetzen tanzen im schmalen Lichtkegel, den das kleine Fenster ins Innere lässt, doch ihr ist nicht nach Tanzen zumute, alles tut weh, auch das Herz, und als sie das dicke Seil durch ihre Finger gleiten lässt, zweifelt sie, aber nur für einen Moment und zum letzten Mal.
Genug ist genug, sagt die Großmutter, und dann hängt sie da, kämpft gegen Leben und Tod, um endlich zu verlieren, und eigentlich hatte sie auf den Film ihres Lebens gehofft, der vor dem inneren Auge aufgeführt wird, doch da ist nur eine kurze Szene in endloser Wiederholung zu sehen, sie zeigt Vieh, das am Haken baumelt, die Großmutter, sie fragt sich, was sollen denn bloß die Kinder denken, dann zuckt sie erneut, und schließlich wird der Bildschirm schwarz.
Genug ist genug, ruft der kleine Junge, er will sich der Welt der Erwachsenen entziehen, will sich verstecken, und gemeinsam mit der Zwillingsschwester steigt er die Treppen hinauf zum Dachboden, sie öffnen die Türe und betreten den Raum, er ist ziemlich dunkel, und es dauert einige Sekunden, bis sie die Großmutter bemerken, sie hängt ganz still am Balken, die Kinder treten näher, neugierig, gespannt, gebannt, und erst, als sie ihr Gesicht nah und deutlich vor sich sehen, beginnen sie laut zu schreien.
Genug ist genug, zischt ihr Vater, es ist zu laut, und überhaupt sollen die Kinder nicht auf dem Dachboden spielen, empört schnaubend steigt er die Treppen hinauf, geht durch die Tür und sieht zuerst die Zwillinge, dann die Großmutter, oh Gott, oh nein, stammelt er, und schließlich schießt die Frage durch seinen Kopf, was sollen denn bloß die Kinder denken, doch da ist es bereits zu spät.

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Sehr schön! Vielen lieben Dank dir dafür, lieber Finbar…
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es ist schwierig, alt und gebrechlich zu werden, auf ständige Hilfe angewiesen, genug vom Leben zu haben, es nicht mehr zu wollen, weil es schon lange vorbei ist, doch der Motor ist stark, er läßt nicht locker und das Lebensmüde akzeptiert ER nicht, dieser gleichmäßige starke Takt, den das Herz vorgibt.
es ist schwierig, gehen zu wollen und es nicht zu können, auch wenn es der letzte und brennendste Wunsch ist, den ein ein zu lange gelebter Mensch noch hat
es ist schwierig, es zu verstehen
es ist schwierig, es nicht zu verstehen
es ist schwierig zu schweigen und es ist schwierig, etwas dazu zu sagen
es ist schwierig, sich mit dem Lebensende auseinanderzusetzen…
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Ja, es ist schwierig, es zu verstehen, es zu begreifen, damit umzugehen, es ist schwierig und tut oftmals weh, es ist schwierig, darüber zu reden, aber vielleicht sollte man es trotzdem oder gerade deswegen tun, darüber reden, sich damit auseinandersetzen, wie auch immer, vielleicht wäre es dann weniger schwierig zu verstehen, keine Ahnung…
Vielen Dank dir, liebe Bruni, für das Lesen und Verstehenwollen und deine Worte…
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traurig. und schön zugleich – und wieder ein großartiges bild.
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Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Das ist mal wieder eine sehr nahegehenede Geschichte.
Wie fast alle von Dir!
Meine Großmutter wurde 94 und das beigefügte Bild entstand etwa 5 Jahre vor ihrem Tod.
Es sieht aus als würde sie schlafen, doch tatsächlich war sie da noch hellwach und blitzgescheit!
Sie sitzt auf der Terasse in der milden Frühjahressonne und genießt.
Die letzten 1 bis 2 Jahre ihres Lebens gab es nach meinen Maßstäben nicht mehr viele Momente die sie genießen konnte.
Sie war fast blind, konnte irgendwann das Bett nicht mehr verlassen und irgendwann schwand der einst so wache Geist.
Doch sie hielt fest am Leben.
Meine Mutter, als ihre Stieftochter, war viel für sie da und sie wohnte bereits zu Zeiten als es noch nicht sein musste in einem guten Altenheim, in dem der letzte Weg würdevoll gegangen werden konnte.
Ich fürchte, dass in Zukunft öfter Menschen ihr Ende selbst herbeiführen.
Vielleicht sind sie noch nichtmal lebensmüde, vielleicht haben sie sogar noch nie so gelebt wie man es ihnen wünschen würde, weil´s zum Leben einfach nicht reicht, sondern gerade so zum Überleben und sie sind müde aussichtslos zu kämpfen.
Sie würden gerne leben, am Leben teilnehmen, mal einen Kaffee trinken gehen, mal ins Kino oder Theater, aber im Winter ist nicht mal die Wohnung warm und Kaffee gibt es nicht mal mehr zu Haus.
Wo soll es auch her kommen, wenn das Geld schon vor der Rente nur für´s nötigste reichte und oft noch nicht mal dafür.
Wir müssen uns entscheiden ob wir uns der Diktatur der Gegenwart beugen wollen.
Ob Geiz wirklich geil ist oder ob wir lieber in einer gerechteren Gesellschaft leben wollen, in der die Scheere nicht immer weiter auseinander geht sondern alle vom Wohlstand profitieren und die wirklich wohlhabenden ein bisschen weniger wohlhabend sein müssen, zugunsten einer Gesellschaft in der es Spaß macht zu leben und am Leben zu bleiben.
Eine Gesellschaft in der Geld nicht der einzige Wert ist dem wir alle nachlaufen.
http://www.fotocommunity.de/pc/pc/mypics/5001/display/140532
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Lieber Joachim, erst einmal vielen lieben Dank fürs Mitteilen und Teilen deiner Erinnerungen. Wenn deine Grossmutter mit beinahe 90 noch in der Sonne sitzen und genießen konnte, klingt das sehr schön. Ebenso schön, dass du diesen Moment auf dem Foto festhalten konntest. Vielen Dank nochmals…
Ich weiß gar nicht, ob sich in Zukunft mehr ältere Menschen das Leben nehmen. Aufgrund der demografischen Entwicklungen dürfte es wohl immer mehr ältere Menschen geben, und wahrscheinlich würde auch eine wachsende Zahl älterer Menschen finanzielle Gründe für einen Suizid haben, also wäre das durchaus möglich…
Am Ende entscheidet wohl jeder selbst, ob er nicht mehr leben will. Und wenn der Lebenswille tatsächlich erloschen ist, kann man entweder warten. Oder man kann sich das Leben nehmen – ganz allein oder eben begleitet, in Form von Sterbehilfe. Eine Zeitschrift thematisierte kürzlich das Thema Sterbehilfe im Alter, und in einem Leserbrief zu dieser Berichterstattung erzählte ein Mann davon, dass seine Mutter sich elendig das Leben hatte nehmen müssen, weil sie nicht genug krank war, um Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu können. Ich weiß nicht, was diesbezüglich richtig oder falsch ist und ob es überhaupt darum geht. Doch manchmal wirkt das Sterben wohl noch trauriger als sowieso schon…
Vielen Dank nochmals fürs Lesen und für deine Gedanken, deine Worte…
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Wie schrecklich 😦 Ich kann sie ja beide verstehen, die Großmutter und den Vater. Kann es sein, dass es Fragen gibt, die keine richtige Antwort haben?
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Fragen ohne richtige Antwort gibt es unzählige, glaube ich. Und manchmal ist vielleicht die Antwort richtig, doch die Frage falsch gestellt. Oder so. Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken…
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