Er steht dort oben, der einsamste Mensch der Welt, alles ist dunkel, nur er ist erleuchtet, beleuchtet, das Scheinwerferlicht lässt Schweißtropfen aus seinen Poren dringen, mit dem Handrücken wischt er sich das fettige Glänzen von der Stirn und schiebt dabei den Hut ein wenig nach oben, es ist eine Melone, niemand trägt mehr Melonen in der heutigen Zeit, doch er tut es, tut es wohl aus wohlüberlegten Motiven, die sich jedoch der übrigen Bekleidung verwehren, denn da sind eine hellbraune Stoffhose und ein dunkelbraunes Jackett und ein Hemd in undefinierbarer Farbe, und nichts davon ist außergewöhnlich, nichts davon hat den Anspruch, für Aufsehen zu sorgen, im Gegenteil, der Mann auf der Bühne ist eine modische Verzichtserklärung, wäre da nicht dieser Hut, der Hut, er prägt, er fällt auf, er lenkt ab, er passt nicht, aber das passt schon.
Es ist Leseabend, jedermann darf mitmachen, jedermann darf sich auf die Bühne stellen und seine Texte vortragen, jedermann darf zeigen, wozu er fähig ist, und er ist ein solcher Jedermann, er ist ein Mann, ein Mann mit Hut, er macht mit, er stellt sich auf die Bühne, er trägt seinen Text vor, er zeigt, wozu er fähig ist, und falls er nervös sein sollte, ist er gut darin, derartige Emotionen zu verbergen, sicher und gefasst steht er hinter dem Mikrofonständer, hält ein Stück Papier in der ruhigen Hand, er wirkt ziemlich selbstbewusst, ziemlich überzeugt von seinem Können und ziemlich optimistisch, dass sein Vortrag beim Publikum für Zustimmung sorgen wird, für Anerkennung, vielleicht sogar für Begeisterung, und nachdem er sich geräuspert hat und die meisten Zuschauer ihre Aufmerksamkeit auf ihn richten, beginnt der Mann mit Hut zu lesen.
Man möchte ihn irgendwie mögen, den Text, möchte ihn gern erfrischend und sympathisch finden, den Mann mit Hut, doch was er dort oben vorliest, ist einfach nur langweilig und banal, eine zusammengeflickte Ansammlung von Worten, die wohl von der Liebe und ihrem Fehlen handeln sollen, aber kaum je einen Sinn ergeben, und der Mann mit Hut, er stolpert über die Hindernisse, die er sich selbst in den Weg und in die Sätze gelegt hat, er eilt über modrig riechende Allgemeinplätze, die mit Klischees gepflastert sind, er liest mit gleichförmiger Stimme, vollkommen ohne Melodie, und gegen Ende streut er einige Kraftausdrücke ein, pinselt mit verbalen Signalfarben über seine Sätze, doch es ändert nichts, der Text wird nicht mehr gut, und als er zum Schluss kommt, wird der anschließende Applaus einzig und allein von Höflichkeit gespeist.
Die Gesichter der Zuschauer, sie erzählen von Ratlosigkeit, von Missbehagen und Fremdscham, manche mögen kaum hinsehen, wie bei einem chirurgischen Eingriff mit viel Blut und sehnigem Gewebe, doch da ist nur ein Mann mit Hut, er steht noch immer auf der Bühne, obwohl längst niemand mehr applaudiert, er lächelt zufrieden, und dann steigt er hinab, geht ruhig durch das Publikum, hin zu einer Person, die an der Seitenwand steht, es ist eine ältere Dame, sie passt nicht hierher, und als der Mann mit Hut bei ihr ankommt, umarmt sie ihn, wie wohl nur Mütter es können, mit ihren knochigen Fingern reibt sie ihre nassen Augen trocken, dann küsst sie den Mann auf die Stirn, schiebt dabei den Hut ein wenig nach oben, und dann gehen sie, ein Mann mit Hut und eine stolze Mutter, sie passen wohl nicht hierher, aber das passt schon.

daß der Hut nicht passt, das passt schon…
eine tolle Textzeile, lieber Disputnik und sie sagt viel aus, mehr, als Du vermutlich beim Schreiben in diesem Moment selbst bemerkt hast, oder hast Du? *lächel*
Er hat sich dort oben hingestellt, er hat sich getraut, es war wohl eine Art von Prüfung für ihn – einen öden Text von da oben zu lesen, trotz des Wissens, wie er ist. Er hat es getan, er hat sie drangekriegt, die Leute, die unterhalten werden wollen auf Teufel komm raus und nun hat er sie – gelangweilt u. das findet er gut, er lächelt zufrieden.
Jetzt kann er gehen und er tut es in aller Ruhe. Seine Mutter, die ihn schon erwartet, ist von ihm viel gewohnt und wieder mal hat sie gesehen, DASS er sich traut, wenn er sich etwas vornimmt, deshalb auch der Hut, der nicht passt und genau das ist es, was zu ihm passt
Liebe Grüße von mir
LikeLike
Wie schön es ist, liebe Bruni, diesen Moment aus einer anderen Perspektive zu sehen, auch aus deiner… Ja, er hat sich getraut, und ich denke, ihm war nicht wirklich bewusst, dass sein Text nicht sonderlich toll war. Doch was, wenn er es tatsächlich doch wusste? Die Rollen, sie ändern sich, das Gefälle neigt sich…
Vielen Dank dir für das Bereichern, durch deine Sicht und deine Worte…
LikeLike
Er wusste es bestimmt, lieber Disputnik *lächel*
Dieser Mann mit Hut hat sich unter Deinen Händen selbstständig gemacht…
Ist es Dir nicht aufgefallen? *g*
Liebe Grüße
LikeLike
Das hat er offensichtlich, ja (Das wiederum weiss er ganz bestimmt nicht). Liebe Grüsse zurück…
LikeLike
Ich glaube, er wußte um die Banalität seines Textes, sonst wäre er nicht so lange selbstsicher geblieben. Daß er gen Ende stolperiger und markanter wird, ist vielleicht nur dem Umstand geschuldet, er möchte endlich fertig sein. Er geht zufrieden lächelnd zu seiner Mutter. Könnte er das, wenn er sich schämte? Was, wenn der Text nur für alle anderen banal, für die zwei aber ein Silbersilbenwortgespinst?
Es ist immer wieder erstaunlich, was Ihre Texte mit uns Lesern machen, Herr Disputnik. Danke.
LikeLike
Dass er sich schämte, glaube ich nicht… Ob sein Text für ihn und seine Mutter von besonderer Bedeutung war, weiss ich natürlich nicht, jedoch wies im Inhalt nichts darauf hin, darum bezweifle ich es…
Und neinnein, wirklich erstaunlich und wunderbar ist, was ihr Lesenden aus meinen Texten macht… Danke!
LikeLike
Als ich noch keine Kinder hatte war ich durch meinen eigenen Fehler in einem Familienhotel gelandet. Eines Abends war eine Kindershow und lauter Eltern, die vor Stolz geplatzt sind. Mir war das völlig schleierhaft, da es ausser dem aufrichtigen Bemühen der Kinder einfach nur schlecht war. Seitdem ich Kinder habe sehe ich die Erinnerung mit anderen Augen, obwohl die „Kunst“ nicht besser oder schlechter ist als damals im Hotel.
Sehr schöner Text von Dir.
LikeLike
Hmmja, Elternaugen sehen anders, Elternohren hören anders, absolut. Und wenn da aufrichtiges Bemühen ist, kann’s wohl in eben diesen Augen und Ohren auch gar nicht schlecht sein… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen, für deine Erinnerungen und Worte…
LikeLike
Es hätte auch genügt, wenn er für die ältere Dame allein vorgelesen hätte…
und…
MUSS jede (Vor)Lesung interessant bis zum Abwinken sein?
Wohl kaum, nein…
Wieder eine Textperle, lieber Schreibfreund…
have a sunny day down there
Finbar
LikeLike
Ich weiss nicht, ob es genügt hätte… Der Dame vielleicht, ihm aber womöglich nicht, keine Ahnung… Sein Vorlesen, nein, war nicht gut, aber interessant war’s dennoch, irgendwie… Vielen Dank für deine Worte, lieber Finbar, und ebenfalls einen schönen Tag dir…
LikeLike
„Man möchte ihn irgendwie mögen, den Text“ – ja, nicht wahr? Man möchte in der Lage sein, den Mann für seinen Mut zu belohnen (denn es gehört doch Mut dazu, sich auf so eine Bühne vor lauter Fremde zu stellen), und wenn man das nicht kann, weil der Text es einfach nicht hergibt, weil es vielleicht besser gewesen wäre, wenn er den Mut nicht gehabt hätte, dann ist das irgendwie traurig.
Ich weiß nicht, ob ich dem Mann zu seinem Selbstbewusstsein gratulieren soll oder ihn für seine Arroganz belächeln, und ob er seiner Mutter für ihre Unterstützung dankbar sein sollte oder enttäuscht, weil ihr unverdientes Lob für seine Texte ihn zu diesem Auftritt getrieben hat. Ich weiß, wie ich mich an seiner Stelle fühlen würde, aber er fühlt ganz offensichtlich anders, so komplett anders als ich.
Vielleicht sollte ich mich an deinen letzten Satz halten – das passt schon. Vielleicht passt es schon.
Aber irgendwie ist da immer noch dieses ungute Gefühl, dass es hätte besser sein können.
LikeLike
Es gehört tatsächlich Mut dazu, sich auf die Bühne zu stellen, ganz unabhängig von der Qualität des Dargebotenen, und dieser Mut, den hatten wir Zuschauer mit den betretenen Mienen nicht. Der Mann mit Hut und Mut verdient darum wohl Respekt. Aber ja, das ungute Gefühl bleibt irgendwie. Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
LikeLike
Aber er hat sich getraut. Und vielleicht hat er es ja für sie gemacht. Sich für sie überwunden und im Bewusstsein seines Mittelmaßes sich trotzdem dort oben hingestellt. Weil manchmal, wenn es gut ist, die Liebe einer Mutter auch ohne Kritik einfach liebt, weil es doch das ist, was wir uns alle wünschen, ohne etwas geleistet zu haben oder etwas besonders gut getan zu haben, geliebt zu werden.
LikeLike
Ja, er hat sich getraut, und wie sehr er sich bewusst war, dass sein Text nicht sonderlich viel Anerkennung vom Publikum erfuhr, weiss ich nicht, aber der Stolz seiner Mutter dürfte sicher viel wert gewesen sein; das ist er wohl immer. Ob das in dieser Situation tatsächlich reicht, weiss ich hingegen nicht… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken…
LikeLike