Der Tag beginnt schon, als die Nacht noch nicht zu Ende ist. Sie schlägt die Augen auf und die Decke zurück. Viel zu schnell steht sie auf, Schlaftrunkenheit raubt Gleichgewicht, sie wankt, aber sie fällt nicht. Draußen ist die Welt noch schwarz, die Dunkelheit fließt als zähe Masse in ihr Zimmer. Sie tritt ans Fenster und öffnet es. Kälte erfasst zuerst ihr Gesicht und schließlich auch den restlichen Körper, diese merkwürdige Hülle. Sie umarmt und wärmt sich. Ihr Husten zerreißt die Stille, doch nur für kurze Zeit. Schnell beißt die Stille sich wieder in ihren Ohren fest.
Dunkelheit. Und Kälte. Und Stille. Und sie wartet. Ein Licht scheint vor ihren Augen auf, es ist die Flamme des Feuerzeugs in ihrer Hand, und die Flamme, sie speist eine Zigarette, bevor sie erlischt. Die Glut ist schwach und wird nur stärker, wenn sie einen weiteren Zug nimmt. Der Dunkelheit kann sie jedoch nichts anhaben. Das Geräusch des versengenden Tabaks wirkt unwirklich laut. Als kleines Kind hatte sie gedacht, das Rauchen einer Zigarette hätte eine wärmende Wirkung, denn wo Glut war, da war auch Hitze. Doch nun ist sie kein kleines Kind mehr. Und sie friert.
Dunkelheit. Und Kälte. Und Stille. Und sie wartet. Ihr Körper ruft sie zur Toilette, sie versteht und widersteht dennoch. Regungslos verharrt sie am Fenster, schnippt den Stummel ihrer Zigarette aus diese schweigenden Loch zwischen dem Zimmer und der Welt. Ihr Hautbild verändert sich, kann den Angriff der Kälte nicht länger abwehren. Sie weiß ihre Kleider auf dem Stuhl an der Wand, doch sie belässt es bei dieser Gewissheit. Sie zieht sich nicht an.
Dunkelheit. Und Kälte. Und Stille. Und sie wartet. Zuerst verlässt die Stille die Welt. Sie macht Platz für bellende Hunde in Vorgärten, für fahrende Autos auf Straßen, für entfernte Stimmen in anderen Wohnungen, für zwitschernde Vögel auf Ästen, für den grellen Lärm von Baustellen und bremsenden Zügen, für das kontinuierliche Rauschen in allen Winkeln. Sie vermisst die Stille schon kurz nach ihrem Verschwinden.
Dunkelheit. Und Kälte. Und sie wartet. Langsam weicht das Schwarz vom Himmel. Ein blauer Schimmer lässt den Morgen dämmern und kündigt einen weiteren Tag an. Immer mehr Lichter erscheinen in Fenstern und nehmen der Dunkelheit die letzte Kraft, die ihr noch geblieben war. Traurig verabschiedet sie sich von der Dunkelheit, ihre Augen beginnen zu brennen, werden bald glasig, bald feucht, dann wieder trocken. Es ist unangenehm. Aber es ist nicht ungewöhnlich.
Kälte. Und sie wartet. Ihr Verschwinden verläuft äußerst zaghaft. Die Kälte scheint mit der Wärme zu kämpfen, zu ringen, und dabei wird sie von Minute zu Minute schwächer, verliert die Kontrolle und die Macht. Im Winter ist dieser Verlust weniger groß als im Sommer, doch in jeder Jahreszeit fehlt sie ihr, in jeder Jahreszeit beginnt mit dem Tag auch das Vermissen der Kälte.
Und sie wartet. Sie wartet auf die Dunkelheit. Auf die Stille. Auf die Kälte. Bis sie wiederkommen. Dann schließt sie das Fenster, legt sich in ihr Bett und zieht die Decke über ihr Gesicht. Die Nacht beginnt schon, als der Tag noch nicht zu Ende ist.
