Wir sind hier und jetzt, sind im Hier und im Jetzt, wir fühlen uns wohl hier und jetzt, was auch nicht verwundert, denn hier und jetzt ist es ziemlich flauschig und bequem. Wir liegen im gemütlichen Bett, mit einer warmen Decke und frisch gewaschenem Laken. Wenn wir schlafen, tun wir es mit einem Lächeln auf dem Gesicht, unsere Körper gekrümmt wie ein Embryo im Mutterleib. Und wenn wir erwacht sind, bringt man uns Kaffee ans Bett. Wir betrachten die Bilder von Feriendestinationen an den Wänden, wir sehen fern. Es ist angenehm im Hier und Jetzt.
Manchmal, da schauen wir aus dem Fenster. Draußen tobt die Welt, doch eigentlich geht sie uns nichts an. Wir geben uns große Mühe, nur den Himmel zu betrachten. Wenn er blau ist, freuen wir uns über einen schönen Tag, und wenn er grau ist, ziehen wir einfach die Decke über den Kopf. Was unter diesem Himmel geschieht, entzieht sich zwar nicht unserer Kenntnis, aber unserer Verantwortung. Schließlich liegen wir hier und jetzt in unserem flauschigen Bett und haben die Welt da draußen nicht so gemacht, wie sie ist.
Das Mädchen trägt ein schmutziges Kleid, überhaupt ist ihm der Begriff Hygiene wohl ziemlich fremd. Mit zerschlissenen Schuhen geht es den Weg entlang, in einer Hand hält es den Arm eines Teddybärs, dessen anderer Arm ebenso fehlt wie ein Bein. Es ist erbärmlich anzusehen, wie es jeden Tag an unserem Hier und Jetzt vorbei kommt. Wir schütteln angeekelt den Kopf, und ja, wir haben schon ein wenig Angst, obwohl wir niemals zugeben würden, dass wir Angst vor einem kleinen Mädchen haben.
Wir signalisieren Interesse und erkundigen uns beim Mädchen, wie es heißt. Terra, lautet die geflüsterte Antwort. Wir wundern uns über den seltsamen Namen, doch wir fragen nicht nach, woher er kommt und was er bedeutet. Überhaupt vermeiden wir tunlichst, mehr Worte als nötig mit Terra zu wechseln, sondern hoffen, dass sie schnell vorüber geht. Doch manchmal bleibt sie stehen, direkt vor unserem Fenster, und sie wagt es sogar, zu uns hinein zu sehen. Dann ziehen wir entweder die Decke über den Kopf, werfen ihr faule Eier an den Kopf oder drücken ihr ein paar Goldstücke in die Hand und bedeuten ihr, schnell zu verschwinden.
Terra ist unersättlich. Wahrscheinlich könnten wir ihr jeden Tag Unmengen von Geld durch das Fenster reichen, sie würde am nächsten Tag trotzdem wieder an die Scheibe klopfen. So geht das aber nicht, also beschränken wir uns auf vereinzelte kleine Gaben. Manchmal schenken wir ihr auch alte Kleider, die wir nicht mehr tragen, ein Stück Brot oder sogar einen Schokoladenriegel. Doch um das Gleichgewicht zu halten, müssen wir sie hin und wieder auch mit Nichtbeachtung strafen oder ihr auf andere Weise zu verstehen geben, dass es nicht richtig ist, was sie da tut. Und oft genug wundern wir uns, was sie eigentlich mit unserem Geld und den Geschenken macht, denn sie sieht jeden Tag gleich aus, trägt ihr schmutziges Kleid und den einarmigen Teddybär. Natürlich sind wir uns bewusst, dass es Terra im Leben wohl nicht so einfach hat wie wir, dass ihr Bett – sofern sie eines hat – nicht so gemütlich ist wie unseres. Aber irgendwie, ganz gewiss, haben wir es uns verdient, unser Hier und Jetzt.
Das Gute ist, dass Terra nicht in unser Hier und Jetzt eindringen kann. Nicht in unser Zimmer, dafür sorgen Sicherheitsfenster. Aber auch nicht in unseren Kopf, schließlich haben wir Augenlider, die wir fest verschließen können. Dieses Unwohlsein, das uns beschleicht, wenn wir sie sehen, es verlässt uns glücklicherweise wieder, wenn Terra aus unserem Blickfeld verschwindet. So können wir uns die Flauschigkeit unseres Hier und Jetzt bewahren. Und wenn wir keine Lust haben, dann schauen wir einfach nicht aus dem Fenster.

Schön umschrieben.
So passiert es leider wirklich tagtäglich viel zu oft.
Ich kann aber auch die Hilflosigkeit dahinter verstehen. Denn was ändern, wenn nach jeder Bemühung ja doch alles gleich bleibt?
(Geduld ist eine…)
LikeLike
Ja, die Hilflosigkeit, eine gewisse Ohnmacht, Machtlosigkeit, ich kann all das auch nachvollziehen, kenne es nur zu gut… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken…
LikeLike
…wenn ich hier in der großen Kesselstadt so tagsüber bei kleinen Arbeitspausen die Straßen entlang gehe, lieber Disputnik, und auch über die prächtigen Plätze spaziere, dann begegne ich Terra und ihren Verwandten sehr sehr oft im Hier und Jetzt und ich muss oft anhalten und ihnen in die Augen sehen, es nimmt mich jedes Mal mit, sie nehmen mich fast immer mit sich mit, zumindest in Gedanken, sie sind nicht ausgesperrt und ich kann mich gar nicht dagegen wehren, mein Schreibfreund, verstehst du, was ich meine…?
Liebe Morgengrüße
vom Lu
LikeLike
Lieber Finbar, ich denke, ich verstehe, was du meinst, mit diesen buchstäblichen Augenblicken der Wahrheit, sozusagen. Und dass du anhältst und ihnen in die Augen siehst, das ist ja auch wertvoll, ein Lebensmittel, irgendwie… Vielen lieben Dank fürs Lesen und für deine Worte…
LikeLike
Dein Text ist so gut, lieber Disputnik, daß ich mich im Hier und Jetzt entsetzlich schäme, weil ich weiß, WIE verdammt recht Du hast, mit jedem einzelnen Wort…und doch weiß ich, daß ich mich nicht ändern werde im Hier und Jetzt, vielleicht mal im Aus und Vorbei, doch dann ist alles zu spät
LikeLike
Liebe Bruni, ich weiss ja nicht, aber entsetzlich schämen musst du dich wohl kaum… Mag sein, dass es Menschen gibt, die sich wirklich entsetzlich schämen müssten, doch genau jene verschwenden keinen Gedanken daran, ihnen fehlt auch jenes Bewusst-Sein, das du mit deinen Worte zeigst… Vielen lieben Dank dir…
LikeLike
Scheiße, erwischt.
LikeLike
Hmmja. Hoppla…
LikeLike
Besser als 500woerterdiewoche kann man es nicht sagen. Danke
LikeLike
Ja, absolut. Danke!
LikeLike
Das ist einer der schrecklichsten Gedanken, dieses „Uns geht es gut, also werden wir das wohl verdient haben“. Schrecklich, weil wir damit sagen, dass die, denen es schlecht geht, das ebenfalls verdient haben. Und diese furchtbare Lüge führt zu so viel Leid und zu so viel Untätigkeit im Angesicht von Leid; denn die Leidenden werden es schon irgendwie verdient haben, warum sollten wir etwas daran ändern? Und statt zu fragen, wie wir helfen können, suchen wir nach jedem Fehler, den sie machen, um sagen zu können „Seht ihr? Selber schuld.“ Dann ist unser Gewissen wieder rein, und wir können wieder die Augen schließen und die Sicherheitsfenster zumachen und so tun, als ginge uns Terra nichts an. Denn uns geht es gut, also werden wir das wohl verdient haben.
LikeLike
Ja, die Gedanken vom Verdienen, ob im Guten oder im Schlechten, sie haben wohl häufig einen ziemlich fragwürdigen Charakter, der sich auch bei übersteigertem Nationalstolz und diversen -ismen beobachten lässt. Mögliche Folgen dieser Gedanken hast du ja wahr und deutlich skizziert. Und ja, das Schliessen von Augen und Fenstern, es ist so einfach und bequem. Am Ende können wir selbst entscheiden, wie viel vom Elend der Welt wir hineinlassen wollen… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und Weiterdenken und für deine Worte…
LikeLike