Er dürfe doch nicht alles zurückhalten, hatte man ihm gesagt, er dürfe doch nicht alles unterdrücken, er müsse sich doch öffnen, er müsse doch alles herauslassen, seine Gefühle, seine Gedanken, all die Dinge, die sich durch sein Inneres fressen, und er hatte es nie gekonnt, jeder Muskel hatte sich verkrampft, doch dann gelang es ihm endlich, plötzlich war alles ganz einfach, er schoss sich mit einem Jagdgewehr in den Kopf, und dann tropften seine Gedanken in kleinen Fragmenten von der Decke.
Sie hatte die Notizzettel überall aufgehängt, in der ganzen Wohnung, in jedem Raum waren irgendwo diese Worte zu lesen, carpe diem, und danach immer das Ausrufezeichen, stets der gleiche Befehl in unzähligen Fragmenten, und jedes Mal, wenn sie einen Zettel erblickte, biss sie sich auf die Unterlippe, schmeckte das Blut, das schlechte Gewissen, so viele Tage vermochte sie nicht zu pflücken, und das Feld, diese Wiese aus einzelnen Tagen, sie überwuchs und überwucherte und verfaulte immer mehr.
Der Stein in seiner Hand, er gibt nicht nach, wenn er drückt, auch seine kräftigen Finger vermögen selbst kleinste Fragmente nicht zu verschieben, er dreht den Stein, streichelt die Oberfläche mit dem Daumen, er kann den Stein mit seinen Händen nicht zerstören, doch der Stein in seinen Händen kann zerstören, wenn er ihn wirft, hart und gezielt, hin zu den anderen, hin zu den Fremden, sie sind alle gegen ihn, alle sind fremd, und ein Stein ist nicht viel, aber immerhin macht er die Angst etwas kleiner.
Eine Freundin von ihr, die ritzte sich Linien in die Haut, akkurate Fragmente, rote Markierungen, und obwohl es keine Buchstaben waren, konnte man sie lesen, entziffern, und als sie sah, was auf der Haut der Freundin geschrieben stand, fand sie es so billig und trivial, aufdringlich sogar, und sie begann, die Freundin zu meiden, trank fortan lieber alleine, immer mehr, sie kotzte und schrie alleine, und irgendwann ritzte auch sie sich eine Linie in die Haut, nur eine, aber ganz tief und ganz alleine.
Sein Vater sagte einst, dass Männer nicht weinen, also hörte er auf, ließ die Tränendrüsen verkümmern, und das Wasser, das seine Augen hätte füllen können, sammelte er lieber im Mund, spuckte Fragmente davon immer wieder aus, denn der Vater, der spuckte auch, Männer spucken, doch sie weinen nicht, nur Memmen weinen, und als der Vater starb und schließlich schweigend im Sarg lag, da spuckte er ihm ins Gesicht, immer wieder, bis kein Wasser mehr da war, nicht im Mund und schon gar nicht in den Augen.

Ich habe den Eintrag bestimmt 5x gelesen und werde ihn wahrscheinlich noch mehrmals lesen. Da steckt so eine Bilderkraft in den wenigen Zeilen. Ich will die Bilder eigentlich nicht sehen und muss doch dauernd hinschauen. Wie bei einem Unfall. Immer wieder. Sehr beeindruckend.
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und nochmals Lesen… Und vielen Dank auch fürs Zulassen von Bildern, auch wenn es keine schönen sind… Danke!
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mich sehr erschütternde Zeilen, lieber Disputnik, mir bleiben nach dem mehrfachen Lesen förmlich die Worte in der Hand stecken, die ich dir eigentlich schreiben wollte, verzeih bitte…
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Die Verzeihung, um die bitte vielmehr ich dich, denn erschüttern wollte ich dich nicht… Ich danke dir von Herzen für deine wortlosen Worte…
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fünf Feinde:
Wut, Hass, Angst, Gier, Neid
wenn ich nicht lerne, diese fünf Feinde zu kontrollieren, diesen exklusiven kleinen Club, der mich jeden neuen Tag auf die Mutprobe stellen will, der mich jeden neuen Tag darum verbitte(r)t Mitglied werden zu wollen, wird mich das irgendwann das Leben kosten. wenn es mich nicht das Leben kostet, Mitglied sein zu wollen in diesen exklusiven Club, werde ich mit meinem Seelenheil den höchsten Mutpreis bezahlen.
es bleibt der Schuss in den Kopf: Bamm!
die Waffe führe ich, um Mitglied zu sein-
allein.
ich ziele, ich setze an, ich drücke ab.
mein Job…
meine Verantwortung…
meine Entscheidung…
fünf Feinde stehen mir zur Seite,
wollen Freunde sein.
mit fünf Feinden bin ich in allen Abenteuern des Lebens am Ende allein.
BangBummBang.
Sie sprechen blutigen Jargon,
ich tu gut daran, ihren Slang zu lernen.
vielleicht können Sie mich dann mal gern haben?
beeindruckte Grüße von der Karfunkelfee
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Wie wunderbar weitergedacht und weitergebracht, liebe Karfunkelfee… Das Beeindrucktsein ist ganz und vor allem meinerseits…
Ja, mit fünf Feinden, mit diesen fünf Feinden, ist man wohl in allen Abenteuern allein, und das Abenteuer ist wohl auch kein Leben mehr, sondern nur noch ein Warten auf das letzte Ausatmen…
Die fünf Feinde, sie sind wohl immer da, irgendwo, und ab und an drängen sie auf eine Umarmung. Wenn man anderes und andere umarmt, immer wieder und oft genug, dann bleiben die Feinde vielleicht abseits…
Vielen lieben Dank, fürs Lesen und vor allem für die Worte…
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oh weh
abwarten was die anderen schreiben
wie sie Not und Pein vermeiden
innere Not, Leid, Frust um alles und jeden
Hass gegen sich selbst und gegen die
die in die Nähe wollen, oder auch
diese Nähe vermeiden wollen
Aggression und Selbstzerstörung,
Tränen, die lange versiegten
Bewegung, die zu Stein erstarrte
nur einmal noch, ein einziges
Mal kratzen und beißen, schneiden
und ritzen
um nicht in der eigenen
Hülle zu sitzen…
oh weh
abwarten, nichts sagen, nicht klagen
in den Gedanken nur Unbehagen…
und jede Lösung verweigert sich
Beherrsch Dich, war ein Spruch meines Vaters,
wenn ich in irgend einer Art zu laut oder zu unbequem wurde
und ich kann ihn immer noch hören …
Was für ein Text, lieber Disputnik
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Nein, liebe Bruni, was für ein Kommentar!
„in den Gedanken nur Unbehagen“, mag sein, aber im Kommentar eben Wortbehagen, wunderbar… Ein herzliches Dankeschön dir!
Ja, sie sind wohl gut darin, laut nachzuhallen, das „Beherrsch dich!“, das „Sei anständig!“, das „Tu was ich dir sage!“, all die Ausrufezeichen hinter den erhobenen Zeigefingern…
Nochmals vielen lieben Dank fürs Lesen und für deine klugen und tiefen Worte…
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Oh wie hart. Da ist ja schwarzer Krauser rauchen und mit den Füßen im Sand spielen geradezu Glückseligkeit.
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Rauchen und mit den Füssen im Sand spielen klingt doch auch unabhängig vom Text gar nicht so übel… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Ps: dein Textkino ist ein einmaliges Lesevergnügen und in seiner Art unvergleichlich. Ich besuche deinen Textraum sehr gerne. Viele gedruckte Kladden reichen nichtmal in ihrer Vielfalt an eine deiner Arbeiten. Danke dir. Lg. lz
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Vielen herzlichen Dank! Und da ich mit Komplimenten etwa gleich gut und elegant umzugehen weiss wie mit glühenden Kohlen in den Händen, bedanke ich mich einfach nochmals, ein wenig errötet, aber sehr herzlich…
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