Er steht alleine am Rand der Autofähre, die grummelnd über den Bodensee gleitet. Es ist kalt und nass, vielleicht November oder Dezember, vielleicht auch Februar. Es ist egal, wie der Monat heißt, irgendwann spielen die Namen keine Rolle mehr. Joseph ist der einzige Passagier auf der Fähre. Da sind er und sein Wartburg und vielleicht ein Dutzend Arbeiter. Sie interessieren ihn nicht wirklich, und sie interessieren sich nicht wirklich für ihn. Einer der Arbeiter kommt kurz zu ihm hin, mit vorhersehbaren Sätzen auf den fleischigen Lippen, irgendetwas über den Wartburg und darüber, dass es auch mal schön sei, so ein Schiff und die Besatzung ganz für sich alleine zu haben. Joseph zuckt nur mit den Schultern und blickt den Arbeiter für den Bruchteil einer Sekunde an. Dann starrt wieder auf das Grau des Wassers, das sich nur geringfügig vom Grau des Himmels unterscheidet.
Den Wartburg hatte er in Finnland gekauft, bei einem seltsamen alten Mann, der im Niemandsland zwischen zwei entlegenen kleinen Dörfern eine überraschend große Autohandlung betrieb. Sie schien nicht sonderlich stark frequentiert zu sein, und bei den meisten Autos im Angebot wuchsen bereits lange Grashalme durch Löcher im Wagenboden. Der Wartburg hingegen wirkte frisch und gepflegt, auch wenn er ebenfalls mindestens zwanzig Jahre alt sein musste. Es war ein Wartburg 353, das Blech war bereits ein wenig ausgeblichen, einige Schrammen erzählten von trivialen Abenteuern, doch ansonsten war der Wagen in erstaunlich gutem Zustand. Joseph war sofort verliebt, bat gestikulierend um eine Probefahrt, und als er wieder auf den großen staubigen Parkplatz fuhr, hatte er das nötige Geld bereits in der Hand. Der seltsame alte Mann nickte kurz und winkte zum Abschied. Danach fuhr Joseph mit dem Wartburg ans Meer, mit einem Frachtschiff über die Ostsee und schließlich tausend Kilometer weiter.
Einst hatte er eine Schildkröte. Seine damalige Freundin hatte sie ihm geschenkt und das Tier auch bereits benannt, nach ihrer Mutter und ihrem Vater. Joseph fand den Namen Anne Frank zwar ein wenig fragwürdig, doch etwas daran ändern konnte und wollte er nicht. Die Freundin verließ ihn bald darauf, um sich einer reisenden Musikantentruppe anzuschließen, obwohl sie kein Instrument spielen und nur ganz fürchterlich singen konnte. Doch Joseph war ihr Fortgehen ziemlich egal. Da war nicht viel Porzellan, das zerbrach, da war wohl auch keine Liebe, höchstens etwas, das man mit ungeübtem Blick mit Liebe verwechseln konnte. Anne Frank hingegen hatte er sehr schnell sehr tief und sehr innig in sein Herz geschlossen. Er wusste nicht, was er so sehr an ihr mochte. Vielleicht war es ihr zurückhaltendes Wesen, ihre Unaufgeregtheit, ihre Fähigkeit, im richtigen Moment zu schweigen. Vielleicht war es auch nur die Tatsache, dass sie der Welt noch reservierter begegnete als er selbst.
Eines Morgens erwachte er, vor dem Fenster hing ein Vorhang aus Nieselregen, und im Nachhinein war er überzeugt davon, bereits damals im Bett gewusst zu haben, dass etwas nicht stimmte, dass etwas fehlte. Als er fünf Minuten später in das kleine Zimmer trat, in welchem er für Anne Frank einen kleinen Lebensraum geschaffen hatte, fand er es verlassen vor. Joseph suchte die gesamte Wohnung ab, auch das Treppenhaus und den Keller. Er sah aus jedem Fenster, immer wieder, blickte in alle Ecken und Winkel, doch die Schildkröte blieb unauffindbar. Zuerst glaubte er an einen Unfall, zog sogar eine Entführung in Betracht, doch als er ihr geöffnetes Tagebuch erblickte und den letzten Eintrag las, wichen alle Mutmaßungen der Gewissheit, dass Anne Frank weggelaufen war. Sie wolle mehr, hatte sie geschrieben. Sie wolle raus aus der Enge und hinein in die Weite. Sie könne nicht atmen in jenem kleinen Zimmer, und lieber wolle sie im kalten Wasser erschrecken und ertrinken als allmählich in einem Sarg aus Tapeten und Parkett zu verenden.
Joseph blieb zurück, allein mit der Gewissheit, dass ihm eine Schildkröte hatte entlaufen können. Und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass es zwar einfach ist, sich eine Schildkröte schenken lassen, alles andere jedoch alles andere als einfach ist. Er erkannte, dass es nicht ausreicht, ihr einfach ein hübsches Zimmer einzurichten. Dass es nicht ausreicht, sie zu füttern und die Heizung aufzudrehen. Er setzte seine Schirmmütze auf, stieg in seinen Wartburg und machte sich auf die Suche nach Anne Frank. Während er sich überlegte, wo man eine Schildkröte suchen müsste, sah er ein Bild von Wellen, die stoisch über das Grau des Wassers schlichen. Das war vor sieben Wochen.
Seither steht Joseph jeden Tag alleine am Rand der Autofähre. Er ist ziemlich sicher, dass er Anne Frank niemals finden wird. Der Bodensee ist zu groß, die Schildkröte ist zu klein und seine Augen sind zu alt. Aber er muss es versuchen, muss sie suchen, immer wieder, immer weiter. Sonst bliebe ihm nur der Wartburg. Und die Erkenntnis, dass er mehr brauchte als Räder und Blech. Dass er auch nach tausend Kilometern nicht am Ziel sein würde. Eine Erkenntnis, die sich, wenn sie unausgefüllt bleibt, nur geringfügig vom Grau des Wassers und vom Grau des Himmels unterscheidet.

Welch schöne Bilder da bei dieser durchaus traurigen Geschichte durch meinen Kopf ziehen. Vielen Dank dafür.
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Vielen Dank dir – fürs Lesen, für deine Worte und fürs Entstehenlassen der schönen Bilder…
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Wartburg und Anne Frank,
was für ein Thema…
selbst:
altes Auto und junge Schildkröte…
jahrelang fuhr ich auf jenen Fähren
über den Bodensee,
hin und her,
you brought me back some memories…
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Lieber Finbar, tatsächlich blitzte wohl beim Schreiben wohl hin und wieder deine Person auf, irgendwo im Hinterkopf… Ich hoffe, die zurückgebrachten Erinnerungen hatten auch ihre schönen Seiten… Lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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nun ja, sie suchte die Freiheit, weil sie in der Enge nicht mehr leben wollte.
Hat er sich mit dem Wartburg nicht auch so etwas wie einen Traum erfüllen wollen?
Freiheit ist auch ein Traum und seine Anne-Frank suchte ihn nun für sich, diesen
Traum von Freiheit,
aber ER fühlt nun täglich mehr, daß er viel mehr verloren hat als nur eine kleine unscheinbare,
aber mitunter wieselflinke Schildkröte…
Suchen wir nicht alle, lieber Disputnik?
Ein feiner Text, in dem mehr steckt als eine entlaufene Schildkröte
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Liebe Bruni, vielen lieben Dank für deine Worte… Ist Freiheit wirklich nur ein Traum? Lässt sie sich nicht doch immer wieder leben, jeden Tag, manchmal mehr, manchmal weniger? Aber ja, er hat zweifellos mehr verloren als nur eine Schildkröte, oder aber die Schildkröte war mehr als „nur“ ein gepanzertes Haustierchen…
Nochmals lieben Dank für deine Gedanken…
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Sorry, der Reader war schneller als ich und sendete den Kommentar ab, bevor ich noch einen Satz hinzufügen konnte:
er wird sie vielleicht wiederfinden können, wenn er aufhört sie zu suchen, denn dann ist jemand zu Hause wenn sie wiederkommen möchte und sie findet ihr zuhause nicht verlassen vor. 🙂
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Das wär schön, ja, zumal Schildkröten ja einen hervorragenden Orientierungssinn haben. Fragt sich nur, ob das Heimweh der Schildkröte grösser ist als ihr Freiheitsdrang… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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also soweit ich mich entsinne, lieber Disputnik, kehren Schildkröten, immer wieder an den Ort ihrer Geburt zurück, um dort ihre Eier abzulegen.
ich finde das klingt hoffnungsvoll, oder?
zudem besteht die Möglichkeit, dass die Schildkröte den Menschen überlebt…
Das heißt, sie kann sich jede Menge Zeit lassen.
fragt sich, ob der Mensch so viel Zeit hat zu warten…
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Ich glaube, Menschen, die einen Wartburg fahren, haben durchaus Zeit, um zu warten. Vor allem, wenn es sich lohnt…
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eine tolle Geschichte und ich mag Schildkröten wirklich sehr.
ich glaube, er wird sie wiederfinden.
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Und grau verdichtet sich zu Grauen. Sowohl als auch. Joseph und Anne. Bemerkenswert verdichtet.
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Dankedanke schön!
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Wie traurig 😦
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Wer weiss, vielleicht ist es gut, dass er nicht aufgibt…
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