Sie fragt sich, was wohl geschehen würde, wenn ihr Platz dereinst leer bliebe, ihre Spuren nirgends mehr hinführten. Sie fragt sich, wer sich wundern und wer nach ihr fragen würde, wer enttäuscht wäre, sie nicht anzutreffen. Sie fragt sich, wann man ihr Fehlen bemerken würde und ob es überhaupt ein Fehlen wäre oder nicht nur eine Abweichung vom Üblichen, die so lange dauern würde, bis etwas anderes zum Üblichen geworden wäre. Wenn sie die möglichen Antworten auf diese Fragen bedenkt, werden ihre Augen glasig, sie spürt es, dieses Erstarren und Gefrieren in den Augenhöhlen. Irgendwann beginnt das Eis zu tauen, das Schmelzwasser strebt als schmales Rinnsal über die Wangen.
Im Frühling lösen Schnee und Eis sich auf, das Wasser drängt durch die Täler, füllt Bäche, Flüsse, Seen bis zu den Rändern. Das ist so normal, dass sie dazu keine wirkliche Meinung hat, die Schneeschmelze löst nichts in ihr aus, keine Furcht, keine Ehrfurcht, höchstens ein Schulterzucken. Die Gletscherschmelze hingegen, sie lässt ein Unbehagen keimen, das in alle Enden ihres Leibes zu drängen scheint. Sie zweifelt nicht daran, dass viele Gletscher gänzlich verschwinden werden. Doch sie weiß nicht genau, wann jener geschmolzen sein wird, der sie am Leben hält. Und manchmal glaubt sie, dass sie nur noch auf das Ende des Schmelzwassers wartet.
Vor Jahren liebte sie einen Mann, liebte vielleicht mehr denn je und ihn zweifellos mehr als andere. Er liebte sie zurück, und um einen Beweis zu erbringen, schuf er eine Skulptur aus Eis, ein gefrorenes Ebenbild von ihr. Die Ähnlichkeit war erstaunlich, und obwohl es ein kalter Wintertag war, konnte es keinen wärmeren Moment geben. Doch irgendwann begann das Eis zu tauen, die Skulptur zersetzte sich allmählich, die Gesichtszüge entgleisten in Zeitlupe und tropften unaufhörlich zu Boden. Sie fragte sich, wie lange man dem Schmelzwasser zuschaut, bevor die Augen glasig werden. Heute weiß sie es. Sie blickt einige Sekunden lang auf die Spuren, die sie im Schnee hinterlassen hat. Dann zuckt sie mit den Schultern und geht weiter.

Es war eine realistische Antwort, lieber Disputnik, weil im Laufe eines längeren Lebens immer das eine oder andere Schöne zu Ende geht und doch macht es anderem Schönem nur Platz *lächel*
Keine Sorge, es geht mir gut und liebe Grüße an Dich
Ich bin immer noch dabei, mich an Dein neues Design zu gewöhnen. Ich bin da nicht so schnell wie Finbar.
Das wäre übrigens auch ein Beispiel für Schönes, das zu Ende ging *g*…
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Es freut mich, dass es dir gut geht, liebe Bruni, und das Schöne wieder/weiterhin seinen Platz findet… Und vielleicht gewöhnst du dich ja auch bald ans neue Design…
Liebe Abendgrüsse…
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…die Vergänglichkeit bei den normalen Dingen des Lebens auf dieser Erde ist immens…
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…und bei den unnormalen, den aussergewöhnlichen Dingen des Lebens wohl ebenso. Die Endlichkeit ist allgegenwärtig, doch zumindest ist sie dehnbar.
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Eine Eisskulptur ist kalt. Geht schlecht zu umarmen. Doch Wasser kann jede Form annehmen und auch das Eis der Sulptur war einmal flüssig. Bei dem Versuch, aus Eisstücken das Wort ‚Ewigkeit‘ zu legen, würde man erfrieren.
Doch eine einzige warme ehrliche Träne schon genügt manchmal um Gletscher schmelzen zu lassen oder schockgefrostete Herzen, meinetwegen auch Artischockenherzen…😎
Gern gelesen…
Liebe Grüße
von der Karfunkelfee
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Fabulös weiterfabuliert, liebe Karfunkelfee, vielen herzlichen Dank dafür, und fürs Lesen und Kommentieren sowieso.
Liebe Grüsse und schönen Abend…
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Der Existentialist in mir sagt: vorbei ist vorbei und ihr kann und wird es dann auch gleich sein. Das Wasser wird fließen, vielleicht versickern, vielleicht in einem Fluß oder Ozean enden, als kleiner nichtiger Teil von allem… Schöner Gedanke, denn ohne die vielen kleinen Teile würde der Fluß nicht fließen und der Ozean nicht sein.
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Jaha, und ohne Wasser kann auch nichts Neues wachsen, oder? Und doch… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Dort, wo die Skulptur einst gestanden hat, ist das Schmelzwasser. Doch an dieser Stelle, genau dort, hat es mehr Wasser als rundherum, denn dort ist die ja gestanden. Sie hinterlässt mehr.
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Ja, aber wenn’s mehr Wasser hat, muss man dann ein Ruderboot haben? Oder schwimmt man? Lässt sich treiben? So oder so, ob Wasser oder Eis: Danke!
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ja, er gefällt mir, gefällt mir sehr und im letztenTeil Deines Textes da gefiel er mir noch viel mehr, so daß ich sogar einen haarfeinen Ton in meinem Herzen hörte, der sich angesprochen fühlte, weiß der Himmel warum, aber ist es nicht immer so, daß wunderschönes lange Bestehendes doch zu Ende geht, oder sich wenigstens so verändert, daß am Ende ein Schulterzucken reicht, um es hinter sich zu lassen oder aber sich mit den Veränderungen abzufinden?
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Das freut mich sehr, dass er dir gefällt, der Text, liebe Bruni, auch wenn es mich eigentlich nicht freut, dass du dich angesprochen fühlst, denn wenn Schönes zu Ende geht, ist’s meistens unschön… Umso schöner wiederum sind deine Worte und dein Weiterdenken, vielen lieben Dank! Und herzliche Grüsse…
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