Es begab sich zu einer Zeit, als sogar die Kleenex-Schachtel neben seinem Bett Staub ansetzte. Vor den Fenstern wurde es längst nicht mehr richtig hell, die Zeitformen in seinem Dasein zankten sich darüber, welche von ihnen die größte Gleichgültigkeit aufwies. Wenn das Telefon klingelte, hielt er sich die Ohren zu, und irgendwo zwischen existenzialistischen Malereien und leeren Zigarettenschachteln schlief seine Libido auf dem Totenbett. Das Gefühl, in seinem Körper zu stecken, war ihm höchst unangenehm. Ebenso unliebsam war ihm sein eigener Anblick, weshalb er reflektierende Flächen nach Möglichkeit mied. Der einzige Spiegel, der sich in seiner Wohnung fand, war jener im Badezimmer, und nachdem ihn sein fratzenhaftes Antlitz ein weiteres Mal hatte erschaudern lassen, beschloss er, den Spiegel und damit auch sein Bild darin endgültig zu zerstören.
Nach einem ersten, äußerst uneffektiven Fausthieb wurde ihm jedoch bewusst, dass er auf Splitter und Scherben im Badezimmer lieber verzichten wollte. Also schob er den Spiegel vorsichtig aus der Halterung der Badezimmerschranktür, trug ihn aus der Wohnung und hinter das Haus. Er stellte die Scheibe auf den Boden, an den kleinen Apfelbaum gelehnt, und hob einen Stein vom Boden auf. Langsam wiegte er ihn in den Händen, ließ ihn wieder fallen, griff nach einem anderen und nickte kurz. Dann holte er aus und schleuderte den Stein gegen den Spiegel. Das Klirren war viel zu leise, der gesamte Vorgang sehr unspektakulär und als symbolischer Akt nur bedingt geeignet. Ziemlich enttäuscht und ernüchtert ließ er seine Schultern fallen und wandte sich ab, als eine krächzende Stimme wie ein rostiges Messer durch die Stille schnitt.
«Das lassen Sie aber nicht so liegen, oder?» Die Frage stammte aus dem schmallippigen Mund seiner Nachbarin, die auf ihrem kleinen Balkon zwischen einem Müllsack und einer verendeten Topfpflanze stand und zu ihm nach unten starrte. Obwohl sie sich die Haare schwarz färbte, wirkte es, als hätte ihre Anzahl Lebensjahre den dreistelligen Bereich schon lange erreicht. «Das ist doch eine Schweinerei!» plärrte sie weiter. «Was fällt Ihnen ein?» Er wusste nicht genau, was ihm eingefallen war, also zuckte er mit den Schultern und blieb reglos stehen. «Jetzt machen Sie schon, räumen Sie das weg!» befahl sie und malte mit dem Zeigefinger unsichtbare Formen in die Luft. Er nickte und schwieg, bückte sich und begann zaghaft, die Scherben einzusammeln, unter den aufmerksamen Blicken seiner strengen Nachbarin. Als er eine besonders spitze Scherbe in den Fingern hielt, schloss er die Augen und erblickte sich selbst, wie er auf die alte Dame zusteuerte, ganz langsam und ruhig, sich vor ihr aufbaute wie ein Schattenwesen und ihr die Scherbe dorthin rammte, wo einst ein Herz gewesen sein könnte. Er schlug die Augen wieder auf und sah, wie seine Nachbarin noch immer auf ihrem Balkon stand und unhörbar vor sich hin grummelte. Er sammelte weiter Scherben ein und trug schließlich einen Stapel kleiner Spiegel zurück ins Haus und seine Wohnung.
Auf dem zerschundenen Parkettboden seines Wohnzimmers begann er, die reflektierenden Fragmente zu sortieren und sie wie Puzzleteile wieder zusammenzufügen. Er wusste gar nicht genau, warum er es tat, und natürlich gelang es ihm nicht, die einzelnen Teile wieder zu einem Ganzen zu formen. Doch irgendwie schien es ihm wichtig. Irgendwann schnitt er sich an einer scharfen Bruchkante die Haut leicht auf. Er saugte ein wenig Blut aus der Wunde, denn klebte er ein Heftpflaster auf den Finger. Und machte weiter.

Fein wie immer geschrieben,
lieber Disputnik,
allerdings musste ich beim Lesen ein klein wenig schmunzeln
(obwohl das natürlich so gar nicht zum Thema passte, dass du hier schriftlich abhandelst),
denn in meinem heutigen Marc-Eintrag geht es auch um Spiegel und
das Besehen von Körpern und Gesichtern in ihnen…
aber mit einer ganz anderen Konklusio *lächel*
Komm, schau mal nach, und lass dich „überraschen“…
Liebe Mittagsgrüße
Finbar
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Ich hab geschaut… Wunderfein… Lieben Dank dir für deine Worte dort und deine Worte hier… Und herzliche Grüsse…
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Wir haben einen Bogen gespannt…
von hier nach dort
und
von dort nach hier,
ICH finde das sehr schön 🙂
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Ja, das ist schön, uneingeschränkt schön… Danke dafür!
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Das finde ich auch, lieber Schreibfreund 🙂
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Man muss ja immer irgendwie weitermachen. Und der Versuch, etwas Zerbrochenes wieder zusammenzusetzen, ist vielleicht nicht das schlechteste.
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Es ist zumindest ein Anfang, kann ein Antrieb für weiteres sein, ja… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Sich erst verlieren um sich wieder zu finden? Mein erster Gedanke nach dieser Lektüre.
Ich lese übrigens gern von dir.
Herzliche Grüße, Mme C.
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Ein feiner Gedanke! Vielen lieben Dank dir fürs Gernlesen und für deine Worte.
Herzliche Grüsse…
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