Da war dieser Mann, der Kaffee trank, wie jeden Tag, eigentlich nichts Außergewöhnliches, eher Gewohnheit als Genuss, der Kaffee sah aus wie immer, schmeckte wie immer, doch als die Tasse leer war, blieben auf deren Boden braune Kaffeeresten zurück. Braune Kaffeeresten sind relativ häufig und wären auch an jenem Tag kaum bemerkenswert gewesen, hätten sie nicht genau so ausgesehen wie das Antlitz von Jesus Christus auf dem Bild, das in seinem Arbeitszimmer über dem Schreibtisch an der Wand hing. Der Mann war außerordentlich verblüfft, was aus seinem Kaffeekonsum entstanden war. Der Sohn Gottes! In seiner Tasse! Das musste ein Zeichen sein! Das Blut in seinen Venen begann laut zu rauschen, alle Farben wurden intensiver, das Licht heller, und sein Körper schien sich plötzlich auszudehnen. Mit ungewöhnlich raschen Schritten ging er ins Wohnzimmer zu seiner Ehefrau, zeigte ihr die Tasse mit der wundersamen Form auf dem Porzellanboden. Die Frau aber lachte nur kurz auf, winkte ab und meinte, das sei doch nur kalter Kaffee, sonst nichts. Man diskutierte kurz, der Mann wehrte sich kleinlaut und schrumpfte schließlich wieder auf Normalgröße. Enttäuscht trottete er zurück in die Küche, um die Tasse abzuwaschen. Doch dann schleuderte er sie wütend und wuchtig ins Spülbecken, worauf die Tasse in zwölf große und hundert kleine Scherben zerbrach. Der Mann schrie. Dann wurde alles ruhig. Und ohrenbetäubend still.
Da war diese ältere Frau, die übers Meer fuhr, auf einem riesigen Frachtschiff, gemeinsam mit einer Handvoll weiterer Passagiere und der Besatzung. Sie war in einer Einzelkabine untergebracht, die einen kleinen Balkon aufwies, und auf dem Metallgeländer dieses Balkons ließ sich bei der Abfahrt des Schiffes ein kleiner Rabe nieder. Man verließ den Hafen, entfernte sich immer mehr vom Festland, bis es nicht mehr zu sehen war. Die ganze Welt schien nur noch aus Wasser zu bestehen, und doch blieb der kleine Rabe beharrlich auf dem Geländer sitzen, blickte in die Kabine, dann wieder aufs Meer. Die Frau war amüsiert, sie freute sich über den ungewöhnlichen Reisebegleiter und begann, mit ihm zu sprechen. Der Rabe sagte zwar nichts, doch er war ein umso besserer Zuhörer, legte dabei seinen Kopf ein wenig schräg, und die Frau erzählte alles, was gerade aus den runzligen Falten ihres Herzens ragte. Es fühlte sich so gut an, so leicht. Seit dem Tod ihres Ehemannes vor einem Jahrzehnt hatte sie nicht mehr so viel geredet wie in jenen Stunden auf dem Meer. Als das Schiff im Zielhafen einlief, wurde der Rabe ein wenig unruhig und flog schließlich laut krächzend weg. Die Frau blieb zurück, allein und ein wenig traurig, aber zugleich erfüllt von einer tiefen Zufriedenheit. An Land wollte sie schnell ihre Tochter, die ihr die Überfahrt geschenkt hatte, anrufen und ihr vom kleinen Raben erzählen. Doch es war der Ehemann der Tochter, der das Telefon abnahm. Mit einem leisen Wimmern in der Stimme erzählte er vom Unfall, der sich an jenem Tag ereignet hatte, als die ältere Frau das Schiff bestiegen hatte. Die Tochter sei auf der Stelle tot gewesen. Die Frau schrie. Dann wurde alles ruhig. Und ohrenbetäubend still.
Da war dieser Pfarrer, der vor lauter Gewissensbissen und sich stetig höher türmenden Gedanken nicht mehr schlafen konnte. Er hatte eine Frau kennen gelernt und sich in sie verliebt. Alleine diese Tatsache war für jemanden in seiner Position ein wenig problematisch. Doch die Frau war zudem verheiratet. Und seit einer Woche hatte er nichts mehr von ihr gehört, was ihn stetig mehr betrübte. Das letzte, wovon sie erzählt hatte, war eine Anekdote aus ihrem Leben, über ihren etwas merkwürdigen Ehemann, der ihr ganz aufgeregt eine Tasse gezeigt habe, weil er glaubte, auf deren Boden das Abbild von Jesus Christus entdeckt zu haben. An jenem Abend war seine Geliebte gut gelaunt, nichts deutete darauf hin, dass sie in seinen Armen unglücklich gewesen wäre, weshalb es den Pfarrer zusätzlich verwunderte, dass sie sich nicht mehr meldete. Mit jeder Minute, die verstrich, wuchs seine Angst, dass er sie nie mehr sehen würde. Und gleichzeitig wuchs auch die Ungewissheit, wie er sein Leben fortan führen wollte. Zwar erachtete er es als gesund, dass er Gott und seinen Glauben stetig hinterfragte. Doch in jüngster Vergangenheit hatte sich das Hinterfragen immer mehr ausgedehnt, erst recht, seit jene Frau in seine Welt getreten war. Die Zweifel hatten zugenommen, auf Kosten der Überzeugung. Mittlerweile war er an einem Punkt angelangt, an dem er sich vorstellen konnte, sich vom Pfarramt und von der evangelischen Kirche zu lösen und ein weltliches Leben zu führen, vielleicht mit jener verheirateten Frau, sofern sich diese von ihrem Ehemann trennen mochte. Doch nun blieb der Kontakt aus, er konnte sie nicht erreichen, und die tobende Unordnung in seinem Kopf hielt ihn wach. Vor seinem Fenster dämmerte bereits der Morgen, als der Pfarrer endlich einschlafen konnte. Doch nur wenige Minuten später wurde er wieder geweckt, von einem Rabenvogel, der vor dem offenen Fenster markerschütternd zu krächzen begonnen hatte. Wütend stand der Pfarrer auf, stellte sich ans Fenster und starrte missmutig in den Garten, wo der lautstarke kleine Rabe auf dem Zaun saß. Der Pfarrer griff nach einer leeren Kaffeetasse, die auf einem kleinen Tisch neben dem Fenster stand, und warf sie nach dem Raben. Im schwachen Licht des Morgens konnte er nicht erkennen, ob er den Vogel tatsächlich getroffen hatte. In jedem Fall hatte das Krächzen aufgehört. Der Pfarrer schrie. Dann wurde alles ruhig. Und ohrenbetäubend still.

nun hast Du sie wieder verwoben, die Geschichten und wie saufmerksam las ich vom Raben, und bei der Schifffahrtsgeschichte bekam ich am Ende eine Gänsehaut, lieber Disputnik, und das passiert mir nicht häufig beim Lesen einer Geschichte.
Zuerst dachte ich, ach, er schreibt von den grenzenlosen Etntäuschungen, die so drastisch in die Wirklichkeit zurückholen, aber bei der Frau mit dem Raben waren noch so viel mehr Gedanken vorhanden, da ging es weit über eine grenzenlose Enttäuschung hinaus, denn hier wurde ein Leben zerstört, bzw. es waren mindestens zwei…
Eine Geschichte, nicht mit Samthandschuhen geschrieben, sondern mit einer Schreibe, die trifft, unmittbar und heftig und dadurch außerordentlich gut.
Ob der Pfarrer nun evangelisch oder katholisch war, spielt keinerlei Rolle
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Vielen herzlichen Dank, liebe Bruni, für dein Lesen und für deine Gedanken, auch für deine Gänsehaut und dafür, dass du ihr Raum lässt… Liebe Grüsse und ein schönes Wochenende dir…
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Das wünsch ich Dir auch, lieber Disputnik, mit allen Deinen Lieben.
Inzwischen ist sie weder weg, die Gänsehaut 🙂 GottseinDank, hat ja lange genug gedauert.
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Wirklich ohrenbetäubend die Stille nach einem Schrei. Die Umgebung schweigt entsetzt.
Eindringlich die Sequenzen, die sich zusammenfinden in eins das andere auslöst und zum Anfang zurückkehrt.
Danke fürs Lesendürfen und dass ich dank Deiner Erzählungen wieder Lust bekomme, auch eigene zu erfinden und aufzuschreiben.
Außerdem bist Du sehr fleißig…
ja, also, das wollte ich gern sagen.
So. 😊
Viele Grüße
von der Karfunkelfee
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Wenn meine Texte deine Schreiblust fördern, freut mich das ausserordentlich… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken und Worte… Liebe Grüsse zurück…
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ich hab zu danken…:)
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Wie nahe Glück und Unglück doch beieinander stehen können…
Aber: War es wirklich ein evangelischer Pfarrer? Sollte es für den nicht ein kleineres Problem sein, sich zu verlieben? Ja, die Ehe brechen sollten auch die Protestanten nicht, aber immerhin kennen sie kein Zölibat und kein Scheidungsverbot, im Gegensatz zu den Katholiken.
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Der Pfarrer war tatsächlich zuerst katholisch, hat sich dann aber gewehrt, war ihm zu dramatisch, das Ganze, darum wurde er evangelisch. Und die Sache nur noch ein wenig problematisch und somit auch weniger zentral als bei einem katholischen Pfarrer… Lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Groß. Ganz groß geschrieben. Danke dafür.
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Ich habe zu danken, fürs Lesen und für die Wunderworte…
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Ueber das alles verwoben, das Glueck, das Unglück, das Zaudern, das Zoegern und den Sinn im Sinnlosen. Gut gemacht, lieber Disputnik.
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Vielen lieben Dank dir, Candy, für Lesen, für deine Gedanken und Worte!
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