Er war doch so lustig, er war doch so gut. Jetzt ist er tot. Nun nennen sie ihn einen traurigen Clown, eine tragische Figur, ein einzigartiges Genie, einen großen Menschen. Und manche nennen ihn einen Feigling. Einen selbstsüchtigen, egoistischen Feigling. Weil er nicht an Krebs gestorben ist, nicht bei einem Verkehrsunfall, nicht bei einem Flugzeugabsturz. Auch nicht am Lauf der Zeit. Er hat sich selbst getötet. Robin Williams, Romeo und Julia, David Foster Wallace, der junge Werther, Sylvia Plath, Ernest Hemingway, Kurt Cobain, Virginia Woolf, die jährlich weltweit etwas eine Million Menschen – sie alle sind demnach egoistische Feiglinge. Weil sie nur an sich selbst dachten. Nicht an andere, nicht an jene Menschen, die ihnen nahe standen, die sie liebten. Nicht an die Überlebenden, an jene, die sie zurückließen, als sie gingen. Einzig und allein an sich selbst.
Natürlich kann man auf solche Weise argumentieren. Natürlich kann man Suizid einfach grundlegend mit Feigheit und Egoismus gleichsetzen. Es gibt diesbezüglich wohl kein Richtig oder Falsch. Es gibt nur Meinungen, Ansichten, eigene und andere, es gibt Erfahrungen, es gibt Geschichten. Zum Beispiel die Geschichte von Olaf. Selbstverständlich ist Olaf nur ein Deckname, denn jenes Feld, in welchem Dinge wie Depressionen, Ängste, Suizidgedanken und entsprechende Versuche wohnen, ist allzu häufig noch Sperrzone, mit Scham auf der einen Seite des Zaunes und Stigmatisierungen auf der anderen. Darum also Olaf. Würde man seine Geschichte aufschreiben, es entstünde ein einigermaßen dickes Buch, Hunderte von Seiten über ein irdisches Dasein, chronologisch aufgebaut, mitunter aber äußerst zäh und dröge, ziellos durch die Lebenszeit mäandernd. Das will doch niemand lesen. Also schnell zum Ende blättern.
Es ist ein Sonntag, aus dramaturgischen Gründen ein Sonntag im Juli, mit wolkenlosem Himmel und zwitschernden Spatzen und sommerlichem Frischeduft in der warmen Luft. Olaf erwacht alleine, wie jeden Morgen, nach kurzem und offenbar traumlosem Schlaf, seine Zunge fühlt sich noch immer an wie ein in Alkohol getränkter Lappen. Er setzt sich auf, blinzelt in das bereits viel zu helle Licht, das durch die Fenster in sein karges Zimmer fließt, und denkt daran, dass der Tag, der vor ihm liegt, der letzte Tag seines Lebens sein werde. Oder dass es zumindest nicht mehr lange dauern dürfte bis zu jenem letzten Tag. Dieser Gedanke, er ist schon seit Jahren da. Manchmal drängt er sich in den Vordergrund, manchmal hält er sich zurück, doch er ist stets präsent, in jedem Moment. Bisher hat sich diese Vorahnung nicht bewahrheitet. Doch nun verbleiben im Buch über Olafs Dasein nur noch wenige Seiten, und einige davon sind wohl bereits leer.
Olaf sitzt am offenen Fenster, stundenlang, mit leiser Musik im Hintergrund. Er trinkt Kaffee, raucht Zigaretten und schaut zu, wie der Tag vor seinen Augen vorüberzieht und stirbt. Mehr tut Olaf nicht. Mehr gibt es auch nicht zu tun an diesem Sonntag. Als das Licht allmählich schwindet, nimmt er ein Blatt Papier und einen Stift, setzt sich an den Tisch und beginnt zu schreiben. Schon nach wenigen Worten beginnen seine Hände zu zittern, zuerst nur leicht, dann immer stärker. Irgendwann umklammert Olaf mit allen Fingern der rechten Hand den Stift und rammt ihn mit Wucht in den linken Handrücken. Der Stift bricht, aus einer kleinen Wunde tritt Blut aus, doch immerhin zittert die Schreibhand nicht mehr. Olaf raucht eine Zigarette, holt sich einen neuen Stift und beginnt wieder zu schreiben.
Ich weiß nicht, wer diese Worte zuerst liest. Sie sind jedenfalls an jene Menschen gerichtet, die ich liebe, und ich hoffe, dass sie alle irgendwie erreichen. Vielleicht ist es aber auch einfach egal. Denn wenn ich ehrlich bin, fehlen sie mir, die Worte. Eigentlich möchte ich so viel schreiben. Gleichzeitig habe ich keine Ahnung, wie ich es ausdrücken soll. Zwei Dinge weiß ich. Dass ich es nur euch verdanke, dass ich überhaupt noch hier bin. Und dass es nicht eure Schuld ist, dass ich es fortan nicht mehr sein werde. Schuld bin nur ich.
In den letzten Jahren war ich oft an diesem Punkt, an dem ich auch jetzt stehe, an diesem Abgrund, der zu allen Seiten nur schwarze Leere kennt. Und immer kurz vor dem Sprung sah ich ein Gesicht, mehrere Gesichter. Eure Gesichter. Es tat weh, euch anzusehen. Ich schämte mich jedes Mal und verabscheute mich selbst noch mehr als sonst. Und doch konnte ich meinen Blick nicht abwenden. Ich schaute euch an, blickte in eure Augen. Dann drehte ich mich jeweils um und ging wieder nach Hause.
Eure Gesichter sind auch jetzt da. Ich aber, ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr hinschauen, kann nicht mehr umdrehen, mir fehlt die Kraft, mir fehlt der Mut. Ich wollte nie jemandem zur Last fallen, wollte nie jemanden traurig machen. Und trotzdem habe ich es getan, immer wieder. Ihr habt es mir nie vorgeworfen, habt mich nicht dafür gehasst. Ich schon. Jetzt mag ich nicht mehr. Es tut mir leid.
Olaf
Den Brief fand man zwei Tage später, Olaf erst nach einer Woche. Zwei Spaziergänger entdeckten seinen Körper in einem Gebüsch am Ufer des Flusses in der Nähe eines Brückenpfeilers. Auf dessen Betonfront hatte jemand mit rotem Spray einen Satz geschrieben. Ihr seid alle Egoisten, nur ich nicht. Das ist nicht sonderlich lustig, und natürlich ist es nicht wahr. Aber es passt zur Geschichte.

Weiterlesen: «There’s nothing selfish about suicide» von Katie Hurley (Original/Übersetzung)
Suizid ist meiner Meinung nach kein Fehler, sondern eine absolute Entscheidung, die man niemals wieder rückgängig machen kann.
Und wer sagt, dass das egoistisch und feige ist… mir fällt da leider nur der Spruch „Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Fresse halten (und sich das erklären lassen)“ ein. Dennoch … ich weiß nicht, ob ich sagen kann, dass ich stolz bin/sie bewundere/was auch immer, empfinde ich etwas sehr Achtungs- und positiv Verständnisvolles für jeden, der sich gegen den Tod entschieden hat.
liebe Grüße 🙂
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Vielen Dank fürs Lesen und für deine Worte… Und ja, achtungwert und schön ist es auf jeden Fall, wenn sich jemand gegen den Tod und für das Leben entscheidet… Nochmals Danke und liebe Grüsse zurück…
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eine außerordentlich gute Einleitung, wie ich finde, lieber Disputnik, so viele gewissermaßen „berühmte“ Freitode u. ob reale Personen oder hoch sensibles Literaturgut – beides zeigt dieses Ende, zu dem es immer viele Gründe gibt.
Nicht alle verstehen wir, aber wie könnten wir auch, versteht sie der, der den Suizid „wählt“, ja oft selbst nicht. Er ertrinkt in einem Meer von Ausweglosigkeit und nur ein einziger Weg zeigt sich ihm. Alle anderen sind in diesen Momenten für ihn nicht existent, einfach nicht vorhanden.
Weinen und klagen müssen wir, denn anders können wir unsere unendliche Trauer darüber nicht zeigen und zeigen müssen wir sie, weil sie uns sonst von innen selbst zerfrisst..
Ein Egoist wird sich nicht umbringen, er lädt seine Last auf den Schultern anderer ab. ER kann es. Dieser hier nicht.
Hier handelt es sich wohl tatsächlich viel eher um eine krasse Ehrlichkeit zur eigenen Person, die mit sich selbst nicht mehr klarkommt und hilflos im Leeren treibt, bis er dann einen Entschluß fasst…
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Vielen herzlichen Dank, liebe Bruni! Ja, das Verstehen fällt schwer in solchen Situation, für den Ausweglosen wie für jene in seiner Nähe. Und das Meer, ja, ein passendes Sinnbild, man droht darin zu ertrinken, man treibt im Leeren, findet nicht zum rettenden Ufer…
Ja, der Egoist ist wohl eher in der Lage, die Last auf den Schultern anderer abzuladen. Das zu können, wäre aber gerade für Nicht-Egoisten wichtig und wertvoll…
Nochmals lieben Dank dir und ein schönes Wochenende…
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Uuuuhhh kannst du bitte Romeo und Julia aus dieser Aufzählung entfernen? Ich weiß nicht, ob ich sie als Feiglinge bezeichnen würde, aber egoistisch und kurzsichtig definitiv, und wer glaubt, dass Shakespeare sie als positive Helden geschrieben hat, hat das Drama offensichtlich nicht verstanden. Ich möchte davon abgesehen auch bezweifeln, ob du den realen Personen gerecht wirst, wenn du sie mit fiktiven in einen Topf wirfst.
Schade, denn der dieser etwas ungeschickten Einleitung folgende Text über Olaf ist sehr eindringlich.
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Nein, ich glaube auch nicht, dass ich den realen Personen gerecht werde, wenn ich sie mit fiktiven in einen Topf werfe. Doch ich werde den realen Personen auch nicht gerecht, wenn ich sie mit anderen realen Personen in einen Topf werfe. Die Einleitung mag diesbezüglich ungeschickt sein, aber gerade um dieses In-einen-Topf-Werfen geht es ja beim Egoismus-Argument. Dass jeder Suizid – ob real oder fiktiv, aus welchen Beweggründen auch immer, ohne Wissen um die Hintergründe – egoistisch ist. Aber ja, natürlich sind Romeo und Julia kurzsichtig, sind keine positiven Helden, auch der junge Werther nicht, überhaupt kann es bei Suizid wohl kaum um positive Helden gehen… Ich danke dir sehr fürs Lesen und Weiterlesen, ebenso für deine Gedanken und Worte…
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Erstaunlich fand ich, als wir über das Thema Suizid sprachen jemand sagte: Der hat sich keine Gedanken gemacht, über gar nichts was ist. Und ich entgegnete: Vermutlich ist das Gegenteil davon wahr: Er hat sich über alles Gedanken gemacht und vermutlich sogar sehr viele.
Ich las vorhin, dass Robin Williams außerdem an Parkinson erkrankt war. Und vorgestern las ich bei Wiki, dass Robin Williams kleine Soldaten gesammelt hat, als Kompensation und/oder Ersatz, weil er (in seiner Kindheit) kaum oder keine Freunde hatte, weil seine Familie dauernd umgezogen ist. Den Respekt, den ich für ihn empfunden habe, der ist immer noch da, warum auch nicht?
Was Suizid mit Feigheit zu tun haben soll, habe ich nie verstanden. Jeder hängt am Leben. Jeder.
Danke für diese Geschichte.
Ein schönes Wochenende Dir.
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Deine Vermutung teile ich, es sind in der Regel wohl eher zu viele Gedanken als zu wenige. Und vor allem sind die Gedankengänge wohl so verschlungen und konfus und verunsichernd, dass man sich verheddert und kaum mehr rausfindet…
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte. Dir ebenfalls ein schönes Wochenende.
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Das mit dem „nicht herausfinden“ ist wesentlich, denke ich. Eine Häufung davon, die in tiefste Verzweiflung stürzt.
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Ja, keinen Ausweg finden, und irgendwann vielleicht nur noch den einen…
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ja. 😦
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Mit Egoismus hat es wohl nichts zu tun, auch wenn einem dieses Wort – je nach Lebensumfeld des Menschen – häufig als eines der Ersten in den Sinn kommen mag. Mit Ehrlichkeit hat es viel zu tun. Sich ehrlich zugestehen, dass die Kraft nicht mehr ausreicht, dass der Schatten immer grösser sein wird, als das Licht. Und womöglich ist es die Fassungs- und Hilflosigkeit, die nach einem Suizid nach einem Schuldigen verlangt.
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Ja, Hilflosigkeit ist in Bezug auf Suizid wohl immer zentral, davor und danach. Und ja, wenn etwa ein Vater oder eine Mutter sich das Leben nimmt, ist es wohl irgendwie nachvollziehbar, dass die Frage auftaucht, wie er/sie dies den Kindern antun konnte. Und eigentlich ist die Frage ja durchaus sehr wichtig. Zumindest wenn man sich auch Gedanken darüber macht, über das Warum und über mögliche Antworten. Das Egoismus-Argument scheint mir jedenfalls ziemlich vereinfachend. Und wenn es ein gewisses Mitleid oder Mitgefühl gegenüber den Hinterbliebenen ausdrücken soll, weiss ich nicht, ob es bei diesen auch so ankommt.
Vielen lieben Dank fürs Lesen und für die Worte und dich.
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Ja, das meinte ich mit dem Lebensumfeld – die Kinder, die junge Familie. Und doch auch diese Situation wirft die Frage auf, wie stark sich die dauerhafte Lebensmüdigkeit auf Kinder auswirkt. Wie sollen kleine Kinder mit dem Gefühl umgehen, dass der Vater oder die Mutter das eigene Leben nicht mag. Oder differenzieren können, dass die Schwere nichts mit ihnen zu tun hat.
Danke auch, für dich.
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Ja, wie sollen kleine Kinder mit dem Gefühl umgehen oder differenzieren können, wenn es selbst Erwachsene häufig kaum schaffen… Danke!
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Ich kann sie nur wahr nehmen. Versuchen zu fühlen. Mir tut es unglaublich leid, wenn eine Seele keinen Boden und Halt mehr findet. Die Hinterbliebenen die sich lange den Kopf hilflos machen.
Nachvollziehen zum Glück nicht. Aber so ist es wohl mit jedem Gefühl, welches man selber noch nie erlebte.
Dennoch vielen Dank für diese wie immer großartige Schreibe.
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Gerade das Wahrnehmen ist doch so wichtig, das Hinschauen, das Aufmerksamsein, das Versuchen… Schön…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Ja… es würde wohl alles ein wenig schöner sein, wenn Aufmerksamkeit ein wichtigeres Attribut würde, es es derzeit häufig der Fall ist. Ohne das zu verallgemeinern…
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Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom der Gesellschaft. Oder so…
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So kann man dennoch immer ein wenig dafür werben. Für gedankliches Auseinandersetzen und Mitfühlen. So wie du mit deiner Geschichte 🙂
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