Der Nachhall treibt noch in der trägen Luft, das Pochen im Kopf verliert nur langsam an Intensität. Eine Träne ist wie flüssiger Honig über ihre Schläfe geschlichen, bis hin zu ihrem Ohr und hinein in den Gehörgang, ein einzelner Tropfen nur. Es fühlt sich seltsam an, störend und unangenehm, doch Lara bleibt reglos. Irgendwann wird die Träne getrocknet sein, wie jede andere, doch bis dahin hat sie eine Berechtigung, hat einen Wert. Neben ihr auf dem Bett liegt der Telefonhörer, stumm und synthetisch, ein herzloses Stück Plastik. Lara kann kaum begreifen, dass vor einigen Minuten noch Evelyns Stimme darin wohnte. Das leere Schlucken tut ein wenig weh. Vielleicht sollte sie etwas trinken.
Gemessen an der Frequenz ihrer Kontakte müssten sie beste oder zumindest gute Freundinnen sein. Sie sind es nicht, und zumindest Lara weiß das auch. Trotzdem telefonieren sie mindestens einmal pro Woche, und beinahe ebenso häufig treffen sie sich zum Kaffee. Der Gesprächsstoff liegt dabei zumeist in den Händen von Evelyn, die ihn häufig zu einer grauen Masse formt, mit welcher Lara nicht viel anzufangen weiß. Die banalen Erzählungen, das ermüdende Polieren von Oberflächen, es ist alles so öde und leer. Lara hat keine Ahnung von Mode und Kosmetik, interessiert sich nicht für das Nachtleben der Stadt oder scheinbar weltverändernde Gerüchte. Dennoch bleibt sie jedes Mal aufmerksam, hört zu und redet mit, gibt sich interessiert, damit Evelyn weiterredet. Nur kein Schweigen. Denn in jedem Schweigen lauert die Gefahr, dass Evelyn feststellt, dass sie eigentlich bessere Dinge zu tun hätte, als Lara von ihren Erlebnissen zu erzählen. Dass sie jederzeit ungleich spannendere Gesprächspartner finden würde. Dass sie ihre Freundschaft oder diese wie auch immer zu bezeichnende Verbindung zu hinterfragen beginnt. Lara kann Evelyn und ihre Belanglosigkeiten manchmal kaum ertragen. Noch weniger erträgt sie jedoch den Gedanken an ein Dasein ohne sie. Außerdem liebt sie Evelyns Stimme, dieses überraschend tiefe und etwas rauchige Timbre, warm und elegant, stets ein wenig geheimnisvoll und selbst bei stumpfsinnigem Gerede ziemlich erotisch.
Bevor Evelyn anrief, wollte Lara dem wie üblich belanglosen Sonntag vorzeitig entfliehen und mit Hilfe von entsprechend wirksamen Kräutern in einen frühen Dämmerschlaf versinken. Doch dann klingelte das Telefon, und nach kurzem Zögern nahm Lara ab. Evelyn fragte, wie es ihr gehe, wartete ihre knappe Antwort ab und begann zu reden. Lara rauchte eine Zigarette, legte sich dann auf ihr Bett, schloss die Augen und hörte zu.
Normalerweise waren ihr Evelyns Schilderungen von amourösen Erlebnissen zuwider. Nicht nur missfielen ihr die mitunter ziemlich eindimensionale Wortwahl und die Derbheiten der Sprache, auch hatte sich nach wiederholten Erzählungen ein gewisser Gewöhnungseffekt eingestellt, und vor allem ließen Evelyns Erlebnisse die brachliegenden Stellen in Laras Welt noch deutlicher und schmerzhafter hervortreten. Doch heute schien sich Evelyn bei ihrer Berichterstattung überdurchschnittlich viel Mühe zu geben. Oder Lara war empfänglicher als sonst. Zu Beginn wirkte die Geschichte allzu bekannt. Evelyn hatte einen Mann kennen gelernt und ihn zu Kaffee und Kuchen in ihre Wohnung eingeladen. Natürlich gab es keinen Kuchen, und natürlich blieb es nicht bei Kaffee. Ziemlich schnell trank man Wein, verringerte den Abstand auf der Couch, ließ textile und emotionale Hüllen fallen, je mehr das Licht vor den Fenstern von der Nacht aufgesaugt wurde. Nichts daran war außergewöhnlich, zumindest nicht in Evelyns Welt und Worten. Doch dann hielt sie inne. Sekundenlang hörte Lara nur ihren Atem, der im Telefonhörer sonderbar mechanisch klang. Was ist los, wollte Lara wissen. Evelyn seufzte leise. Ihre Antwort war nur ein Flüstern. Wir haben nicht gefickt, weißt du. Aber es war der beste Sex meines Lebens. Lara war verwirrt. Sie fragte, was das bedeuten sollte. Und Evelyn begann zu erzählen.
Er führte mich ins Schlafzimmer. Wir standen vor dem Bett und küssten uns, streichelten uns und zogen uns gegenseitig aus. Als ich nur noch meinen Slip trug, ließ ich mich auf die Matratze sinken. Er setzte sich neben mich und blickte mich einfach an, sah mir starr in die Augen. Ich wusste nicht, was in ihm vorging, also fragte ich ihn, ob etwas nicht stimme. Er lächelte nur. Sein Lächeln, es war ganz warm. Dann wollte er wissen, ob ich ihm vertraue. Ich zögerte und sagte dann, dass ich ihm wohl so sehr vertraue, wie man jemandem vertraut, den man erst seit kurzer Zeit kennt. Er hielt inne, wandte sich ein wenig ab. Ich versicherte ihm, dass ich mich sicher fühle in seiner Anwesenheit. Er nickte und stand auf. Als er aus dem Zimmer ging, befürchtete ich bereits, dass der Abend gelaufen sei. Doch nach kurzer Zeit kam er zurück, in der Hand einige Halstücher. Meine Halstücher. Vier Stück. Er setzte sich wieder neben mich und flüsterte, dass ich es unbedingt sagen müsse, falls ich mich irgendwie unwohl fühlen sollte. Nachdem ich bejaht hatte, nahm er mein Handgelenk, band es mit einem Halstuch an eine der Metallstangen des Bettes. Dasselbe tat er mit dem anderen Handgelenk. Mit einem weiteren Halstuch verband er mir die Augen. Und ließ das letzte Halstuch langsam über meine Haut gleiten. Wie ein Windhauch. Wie eine Feder.
Lara hatte längst angefangen, sich selbst zu streicheln, schob zitternde Finger über ihre Brüste und in ihren Schoss. Als Evelyn plötzlich zögerte und schwieg, wagte Lara nicht zu atmen und sehnte sich danach, dass Evelyns tiefe Stimme zurückkehrte. Was ist dann passiert, stammelte sie kaum hörbar.
Manchmal waren seine Hände wie warme Decken, dann wieder ganz stark und energisch. Irgendwann waren seine Fingerkuppen wie Regentropfen, tausend Regentropfen auf meiner Haut, und einen Moment lang dachte ich, dass da noch zwei weitere Männer im Raum sein müssten, doch es war nur er, das waren nur seine Finger, mit denen er meinen Körper erkundete, ganz sanft, aber zielstrebig. Dann spürte ich seinen Atem an meinem Ohr. Er küsste mich, küsste mich überall, seine Lippen wanderten von meinem Hals zu meinen Brüsten, dann zu meinem Bauch, dann zu den Füssen, dann zu den Schenkeln, dann wieder zum Bauch und schließlich, als ich es kaum mehr aushalten konnte, in meinen Schoss. Als ich seine Zunge spürte, hatte ich wohl meinen ersten Orgasmus. Ich rechnete schon damit, dass er nun aufhören würde. Doch er machte einfach weiter. Immer weiter. Keine Ahnung, wie lange. Und ich explodierte im Innern, immer wieder.
In diesem Moment bäumte auch Lara sich auf, schob ihr Becken nach oben, ihre Muskeln verkrampften sich, und sie musste ihre Hand mit aller Kraft auf den Mund pressen und das Telefon mit ausgestrecktem Arm von sich fernhalten, um sich von Evelyn nichts anmerken zu lassen. Dann führte sie den Hörer wieder an ihr Ohr.
Irgendwann sagte ich wohl, dass er aufhören soll. Mein ganzer Körper zitterte. Er streichelte mein Gesicht, nahm mir dann die Augenbinde ab und löste auch die Knoten an meinen Handgelenken. Als ich mich ein wenig gefangen hatte, setzte ich mich auf und küsste ihn. Ich glaube, ich habe noch nie jemanden so innig geküsst. Ich tastete nach seinem Schwanz, wollte ihm etwas zurückgeben, irgendwie, doch er schüttelte nur den Kopf und lächelte. Dann legten wir uns nebeneinander ins Bett. Mehr als Mein Gott und Danke konnte ich wohl nicht mehr sagen. Irgendwann schlief ich ein.
Lara biss sich auf die Unterlippe, ihre Hand glitt über ihr Gesicht. Zögerlich fragte sie, was danach geschehen sei. Am nächsten Morgen war er weg, antwortete Evelyn beinahe murmelnd. Ich weiß nicht, ob ich ihn je wiedersehen werde. Ich vermisse ihn. Weißt du, es war nicht nur die Nacht. Es war nicht nur das Körperliche. Ich fühlte mich schon zuvor einfach wohl und sicher bei ihm. Keine Ahnung, wie ich es beschreiben soll. Es war einfach gut. Und ich hab verdammte Angst, dass es vorbei ist. Obwohl noch gar nichts angefangen hat.
Evelyn hustete kurz, dann erstarb ihre Stimme und ließ nur ein leises Schluchzen zurück. Lara flüsterte tröstende Sätze in den Hörer, ohne genau zu wissen, wovon und zu wem sie eigentlich sprach. Irgendwann legte Evelyn auf, doch Lara redete weiter, immer weiter. Sie wimmerte und würgte, presste die Worte immer krächzender zwischen ihren Lippen hindurch in den Raum. Schließlich verstummte sie.
Und nun treibt der Nachhall noch in der trägen Luft, das Pochen im Kopf verliert nur langsam an Intensität, die Träne im Ohr verdunstet allmählich. Neben ihr auf dem Bett liegt der Telefonhörer, stumm und synthetisch, ein herzloses Stück Plastik. Lara kann kaum begreifen, dass vor einigen Minuten noch Evelyns Stimme darin wohnte. Das leere Schlucken tut ein wenig weh. Vielleicht sollte sie etwas trinken.

Unglaublich, wie leicht es dir scheinbar fällt, charakterstarke Personen zu erfinden und sie auf einer so kurzen Seite in solch spannende Zusammenhänge zu verweben.
Die erzählte Handlung erinnert mich an Shades of grey in gut.
(Ja, ich schäme mich etwas, das gelesen zu haben, aber man will ja wissen, was die weibliche Hälfte der Menschheit gerade derartig in den Wahnsinn treibt. Komische Menschenhäfte übrigens, diese Frauen, dass dieses Buch so gehyped werden musste, haha.) 😀
Jedenfalls enttäuscht keine deiner Geschichten!
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Voll deiner Meinung, was die unglückseligen Hype-Books über die grauen Schattierungen des Sexes angeht…
und voll deiner Meinung, was deinen letzten Satz mit Ausrufezeichen angeht!
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Vielen Dank, lieber Finbar, vornehmlich für die zweite Meinungsteilung und das Ausrufezeichen natürlich. Und fürs Lesen sowieso…
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Das freut mich sehr, dass du mit meinen Texten und Geschichten etwas anfangen kannst… (Die Geschichten über den Herrn Grey habe ich nicht gelesen und weiss darum weder über die Inhalte noch darüber Bescheid, ob der Hype berechtigt ist… Und was die Menschheit betrifft; ich find beide Hälften komisch…) Vielen lieben Dank fürs Lesen und für deine Worte!
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träne im ohr… das ist wirklich ein ganz besonderes und seltsames gefühl. schön, wie du es beschreibst!
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Vielen lieben Dank dir für deine Worte, und fürs Lesen sowieso!
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