Der Pfarrer steht neben dem Altar und sieht aus wie ein Rockstar, die Haare sind wild und jugendlich frech frisiert, das Gewand beeindruckt durch eleganten Schnitt und zeitlose Farben, und sein Gebaren, es ist von ungeahntem Ausdruck, eine tiefe Leidenschaft wird deutlich, sein Vortrag wäre überzeugend, vielleicht sogar berauschend, wenn er jemanden interessieren würde, doch die Anwesenden auf den unbequemen Bänken der Kirche bleiben zumeist reglos und stumm, manchmal murmeln sie, stehen kurz auf und setzen sich wieder, und eigentlich könnte der Pfarrer auch zu einem Gemüsegarten oder einem verlassenen Fahrradparkplatz sprechen, doch dann regt sich jemand in den hintersten Reihen, ein älterer Mann im Mantel, er ist offensichtlich schlafend von der Bank gefallen und rappelt sich auf, eine Flasche fällt zu Boden und zerspringt mit einem humorlosen Klirren, und nach einem ausgiebigen Hustenanfall fängt der ältere Mann an zu sprechen, sehr laut, aber keineswegs deutlich, eher lallend, die Zunge liegt schwer im Mund, mit krächzender Stimme ruft der Mann nach vorne, hallo, Herr Pfarrer, wo ist denn dein Chef, wo ist denn nun dieser verdammte Herr Gott mit seinem langen Bart, dieser elende Hund, so eine Scheiße aber auch, baut er also eine Welt zusammen und haut dann ab, lässt noch diesen lumpigen Jesus ein wenig rumhampeln und dann ist Feierabend, seither kein Pieps mehr vom ach so heiligen Vater, aber Herr Pfarrer, ich sag dir was, so etwas macht kein Vater, ein Vater haut doch nicht einfach ab, und ein Vater lässt doch seinen Sohn nicht an ein Kreuz nageln, und der Mann brabbelt noch ein wenig weiter, aber nichts davon ist verständlich, die Worte verkümmern zu akustischer Spucke, und dann rafft der Mann seinen Mantel zusammen, verbeugt sich mit bravouröser Theatralik und wankt dem Ausgang entgegen, müht sich an der riesigen Tür ab und stolpert schließlich nach draußen, die vier Treppen vor der Kirche hinab auf den Bürgersteig und direkt über die Straße, und zweifellos hätte er die andere Seite erreicht, wäre da nicht der Mercedes Benz der G-Klasse gewesen, ein fürchterliches Exemplar moderner Fahrzeugbaukunst, rücksichtsvoll wie ein Panzer und elegant wie ein Faustschlag, und dieser Mercedes Benz der G-Klasse erfasst den Mann und trägt ihn einige Meter weit mit, wirft ihn dann zu Boden und überrollt ihn, wackelt ein wenig, dann quietschen die Reifen, und während der Mercedes Benz der G-Klasse endlich zum Stillstand kommt, tritt der Pfarrer aus der Kirche, die Haare noch wilder als zuvor, mit großen Schritten stürmt er hinab auf die Straße, hin zum kümmerlichen Haufen, der vom alten Mann übriggeblieben ist, und nachdem er sein elegant geschnittenes Gewand gebändigt hat, kniet er sich hin, dreht ihn zur Seite, mustert ihn sorgenvoll und reißt dann schockiert die Augen auf, bekreuzigt sich und ist zugleich bemüht, einem leichten Brechreiz zu widerstehen, und während er sich ein passendes Gebet überlegt, öffnet sich die Tür des Mercedes Benz der G-Klasse, eine blonde Frau steigt aus, sie ist nicht mehr jung und sicher älter, als sie sich fühlt, das Gesicht ist frei von Farbe, und mit leicht irrem Blick tritt sie zum Pfarrer hin, kniet sich neben ihn und spricht ihn an, nicht mit Herr Pfarrer, sondern mit seinem Vornamen, und dann, nach einem Schluchzen, mit einem Kosenamen, wie nur Liebende ihn kennen, und der Pfarrer hört auf zu beten, sieht sie an und zuckt ein wenig zusammen, in einem ersten Reflex will er sie umarmen und küssen, doch dann entsinnt er sich der immer zahlreicher erscheinenden Passanten und belässt es bei einem Arm auf der Schulter, und die blonde Frau, noch immer apathisch, sieht nun zum alten Mann im Mantel, und jetzt ist sie es, die zusammenzuckt, sie schlägt ihre Hand vor den Mund, doch der Schrei ist dennoch schrill und grell, und nach einem merkwürdigen Japsen kippt sie und prallt auf den Asphalt, auf den Lippen noch das Wort Vater, und der Pfarrer, er blickt vom Gesicht der blonden Frau zum Gesicht des alten Mannes und wieder zurück zum Gesicht der blonden Frau, bevor er zwei Finger an den Hals führt und an seinem Kragen zieht, bis die Naht reißt, und irgendwann steht er auf, sieht sich um, alle stehen da und warten, dass etwas geschieht, ein Wunder oder dergleichen, vielleicht warten sie auch, dass er etwas tut, der Pfarrer, doch er kann nichts tun, also kniet er sich wieder hin, schnieft und blinzelt und hustet und wartet voller Angst, bis die blonde Frau wieder aus ihrer Ohnmacht erwacht.
