Als Juri schließlich explodierte, flogen die Fetzen bis zu fünfzig Meter weit, und man kann von Glück reden, dass niemand in seiner unmittelbaren Nähe stand, obschon es wohl ziemlich unpassend ist, von Glück zu reden, wenn es um die Explosion eines Menschen geht.
Juri hatte alles versucht, hatte sein Bestes gegeben. Und tatsächlich war er auf weitaus mehr gekommen als auf einen grünen Zweig. Er hatte einen ganzen Baum gepflanzt, eine wahrhaftige Plantage sogar. Er hatte eine Frau, einen Sohn, eine Tochter, sogar einen Golden Retriever. Er hatte einen guten Job mit angemessener Bezahlung, war in der freiwilligen Feuerwehr engagiert, spendete an Greenpeace und Kinderhilfswerke, trennte seinen Müll, fuhr ein Auto mit Hybridmotor. Juri hatte wirklich alles versucht. Doch es war offensichtlich nicht genug.
Beim Verlassen seines Elternhauses im weißrussischen Hinterland hätte Juri nicht gewagt, sich vorzustellen, dereinst so viel erreichen zu können. Er wollte nur weg. Weg von seinem Vater und den täglich geleerten Vodkaflaschen, weg von den Schreien und Schlägen. Weg vom beißenden Gestank seiner Mutter, die aufgehört hatte, sich zu waschen, um die gewaltsamen sexuellen Übergriffe durch seinen Vater auf ein Minimum zu reduzieren. Weg von den leeren Fabriken und baufälligen Häusern, weg von den ausdruckslosen Gesichtern und den zweifelhaften Freuden. Er lief los. Und hielt erst wieder an, als er glaubte, angekommen zu sein.
Die ersten Jahre waren nicht einfach. Er kämpfte um eine Aufenthaltsbewilligung, hielt sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, lernte schwimmen, haderte mit der Welt und seinem schlechten Gewissen, war sehr müde und sehr einsam. Doch er klammerte sich beharrlich an jeden seidenen Faden, an jeden Silberstreifen, an jedes Trostpflaster. Bis der Hoffnungsschimmer wieder heller zu leuchten begann.
Durch Zufall und die gütige Unterstützung eines älteren Mannes, welchem er durch beherztes Eingreifen und eine wirkungsvolle Herzmassage das Leben gerettet hatte, konnte Juri eine Ausbildung absolvieren, die er mit Erfolg und besten Resultaten abschloss. Er fand rasch eine aussichtsreiche Anstellung bei einem Versicherungsunternehmen, konnte seine Schulden zurückzahlen und schuf sich eine durchaus angenehme Existenz. Als er dann sein Herz an eine Mitarbeiterin verlor und im Gegenzug ihres erhielt, war er der Stelle, an die er sich in seinen kühnsten Vorstellungen geträumt hatte, sehr nahe gekommen. Dann wurden die Kinder geboren, die Hundehütte wurde aufgestellt, und alles war perfekt und wunderbar. Eigentlich.
Irgendwann begann das Bröckeln. In der Firma erhielt Juri einen neuen Vorgesetzten, der ihn bei Beförderungen überging, ihn grundlos anbrüllte, pausenlos schikanierte und schließlich seine Entlassung veranlasste. Zu Hause fehlte alsbald das Geld, seine Frau wurde immer unzufriedener, ertrug seine Anwesenheit immer weniger und flüchtete sich in die Arme von Alkohol und fremden Männern. Die Kinder lehnten sich zunehmend auf, wurden frech und seltsam lieblos. Juri ertrug alles. Sogar noch dann, als man ihn aus der freiwilligen Feuerwehr ausschloss. Zwar spürte er das Bröckeln, das Entgleiten, er war sich sehr bewusst, wie unerbittlich die Bäume in seiner Plantage verdorrten, doch er wagte nicht zu weinen, der Boden wurde nicht gewässert.
In einem kleinen Kasten bewahrte Juri seine Hoffnung auf. Er schaute immer wieder hinein und prüfte, ob noch etwas davon vorhanden war. Und auch wenn sich dadurch nichts zum Besseren wendete, gab ihm der Inhalt des Kastens ein angenehmes Gefühl. Er kraulte den Golden Retriever, blickte ihm in die treuen Augen und murmelte, dass wieder schönere Zeiten kommen würden, irgendwann, irgendwie. Als der Hund dann ziemlich unerwartet starb, hörte Juri ein merkwürdiges Zischen im Kopf. Mit zitternden Fingern streichelte er das weiche Fell des toten Tieres. Während er die Tür des kleinen Kastens öffnete, wusste er bereits, dass er leer sein würde. Er blickte aus dem Fenster nach draußen, wo ein einsamer Baum auf den staubigen Boden krachte.
Als Juri schließlich explodierte, flogen die Fetzen bis zu fünfzig Meter weit, und man kann von Glück reden, dass niemand in seiner unmittelbaren Nähe stand, obschon es wohl ziemlich unpassend ist, von Glück zu reden, wenn es um die Explosion eines Menschen geht.

Es ist eine Geschichte, die so viel erzählt, dass man lange Zeit daran „knabbert“ und ich mag diese Art von Geschichten. DANKE und herzliche Grüße, Sylvia
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Es ist sehr schön, wenn Geschichten nach dem letzten Punkt noch ein wenig andauern… Vielen Dank dir fürs Lesen und Knabbern und für deine Worte…
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ach, deine Texte – immer wieder sehr, sehr schön!
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Vielen lieben Dank fürs Lesen und Schönfinden und für deine Worte…
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Es ist schwierig in Worte zu fassen, was ich ganz oft beim Lesen deiner Texte empfinde. Bei diesem und bei einigen anderen ist es ungefähr dieses Bild: Eingehüllt in ein sanftes, duftiges Seidentuch auf eine nackte Backsteinmauer zusteuernd. Und selbst beim Aufprall spüre ich noch die Seide. Naja, so in etwa.
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Es wirkt keineswegs schwierig und liest sich sehr schön, wie du’s in Worte gefasst hast… Vielen lieben Dank fürs Lesen und für deine Gedanken…
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Sehr schön. Der Golden Retriever als höchstes erreichbares Ziel für sozialen Standard… ich musste wirklich lächeln.
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Das ist schön und freut mich sehr. Lieben Dank fürs Lesen und Lächeln und die Worte.
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Einen Menschen zusammenzubrechen zu sehen ist immer tragisch. Es mutet schon zynisch an, in dem Zusammenhang das zu behaupten, aber ich sage es trotzdem: Gelungene Geschichte!
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Herzlichen Dank fürs Lesen und Mitansehen und für deine Worte…
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