Herr Talpa war eigentlich ganz glücklich. Er hatte sich ein schönes Heim geschaffen, weit verzweigt und durchaus stabil, mit mehreren Ausgängen und zahlreichen Rückzugsmöglichkeiten. Es war vielleicht nicht viel, aber es war ein Zuhause, und Herr Talpa kannte nur wenige Worte, die schöner waren. Manchmal, wenn er auf Artgenossen traf, erzählte er beinahe übermütig von eben diesem Zuhause, und in seine Stimme mischten sich ein wenig Stolz und dieser merkwürdig dumpfe Klang, wenn Worte schneller hervordringen möchten als es die Kehle erlaubt. Seine Gesprächspartner berichteten jeweils in ähnlicher Manier von ihren entsprechenden Behausungen, was Herrn Talpa aber nicht sonderlich irritierte. Jeder sollte doch das Recht haben, sich dort, wo er wohnt, auch wohl und freudig aufgehoben fühlen.
Da waren einige Einschränkungen und Relativierungen, nicht jeder Tag glänzte und glitzerte in der Sonne, doch grundsätzlich war sein Maulwurfleben ein gutes, und Herr Talpa sah keinen triftigen Grund, sich zu beklagen, zumal er sich wohl geniert hätte, über die kleinen Stolpersteine des Lebens zu jammern. Er mochte die feuchte Erde um ihn herum, er mochte sein Tunnelsystem, er verspürte Zufriedenheit, und auch dieses Wort fand er außerordentlich schön, wenn auch nicht ganz so schön wie Zuhause.
Zwar kannte Herr Talpa die Gefahr, die Geschichten waren ihm vertraut, doch als das Wasser kam, war er dennoch überrascht und natürlich keineswegs vorbereitet. Ohne jegliches Gepäck und ohne Blick zurück trat er die Flucht an, eilte durch die Gänge, so schnell seine kurzen Beine es zuließen. Der Film, der beim Lebensende vor dem inneren Auge abläuft, hatte bereits begonnen, aber Herr Talpa hatte keine Zeit, um ihn sich anzusehen, zu schnell kam das Wasser näher, zu bedrohlich war seine Lage. Mit letzter Kraft und nassen Füssen vermochte er sich ins Freie zu retten. Während das Wasser langsam zurückging und wieder versickerte, schleppte er sich weg vom Loch und hinein ins Dickicht des nahen Waldstückes, atmete durch und schlief schließlich erschöpft ein.
Mit dem nächsten Morgen begann ein neues Dasein, ein neues Selbstverständnis von Herrn Talpa. Ihm war klar, dass er auf jenem Feld, das ihm seit Kindesbeinen Heim und Heimat gewesen war, nicht mehr leben und überleben konnte. Das ganze Tunnelsystem war zerstört, ein lautes Dröhnen und kreischende Geräusche kündigten weiteres Unheil an. Also machte sich Herr Talpa auf den Weg. Ein Weg, der ihn weit weg vom schönen Wort Zuhause und tief hinein in eine ständig nagende Ungewissheit führte.
In einem Hollywoodfilm wären die folgenden Wochen und Monate vielleicht als großes Abenteuer dargestellt worden, doch Herr Talpa war ein Maulwurf, und Maulwürfe gehen selten ins Kino. Auf seiner Suche nach einem Ort, an dem er zumindest wohnen und essen konnte, fand sich Herr Talpa immer wieder in Situationen wieder, die ihm seine eigene Sterblichkeit auf drastische und oftmals schmerzliche Weise bewusst machten. Er musste sich Angriffen von Eulen und Bussarden erwehren, vor Füchsen und Mardern in Deckung gehen, kalte Nächte und prasselnden Regen ertragen. Immer wieder zeigten sich kleine Silberstreifen am Horizont, wurden aber alsbald von dunklen Wolken überrollt, und überhaupt wurden seine Augen immer schlechter. Mehrere Male wollte Herr Talpa aufgeben, wollte sich einfach auf den feuchten Boden legen und warten, bis ein Iltis ihn entdeckte oder ein missmutiger Jagdhund ihn zu Tode biss. Doch die Hoffnung auf eine positive Wendung trieb ihn vorwärts.
Als er am Rand der großen Wiese stand, konnte er im ersten Moment gar nicht begreifen, dass sich vor ihm tatsächlich eine neue Perspektive eröffnete. Das Gras stand ziemlich hoch, doch es schien saftig, das Erdreich unter ihm wirkte reichhaltig. Herr Talpa vermisste den Geruch seiner Heimat und die hohen Bäume des nahen Waldstücks, das Ausbleichen der Erinnerungen betrübte ihn, doch ihm war klar, dass er im Moment vor allem Schutz und Nahrung bedurfte, dass er einen Platz zum Schlafen brauchte. Keines der Worte, die ihm durch den kleinen Kopf gingen, war annähernd so schön wie Zuhause und Zufriedenheit, aber zumindest hatten sie einen Wert, er konnte sich an ihnen festhalten.
Das Knirschen hinter ihm war ganz leise, wie ein kurzes Flüstern. Er wollte sich umdrehen, doch dazu kam es nicht. Herr Talpa war nicht sofort tot, er röchelte und japste. Dann wurde er von einer rostigen Schaufel zur Seite gedreht. Den zweiten Schlag spürte er nicht mehr.

Gemäß UNO kamen im Jahr 2014 rund 218’000 Flüchtlinge über das Mittelmeer. Geschätzte 3500 Personen sind auf der Flucht ertrunken. In den ersten Monaten des Jahres 2015 starben nach Angaben der UNO bisher über 1600 Flüchtlinge. Den größten Teil der Flüchtlinge nehmen jedoch in der Regel die angrenzenden Länder auf. Beispielsweise retteten sich von den vier Millionen Syrern, die seit Ausbruch des Konfliktes ins Ausland geflohen sind, die meisten in die Nachbarstaaten, wo sie in Flüchtlingslagern leben. Die Türkei hat laut UNHCR über 1,7 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen, der Libanon rund 1,2 Millionen, Jordanien knapp 630’000, Ägypten über 130’000. Auch der Irak hat bisher rund 250’000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen – und damit deutlich mehr als alle 28 EU-Staaten, die Schweiz und Norwegen zusammen. (Quelle: unhrc.org)

Nach der berührenden Maulwurfsgeschichte, die eine Kindheitserinnerung anrührt und Heimat so stark nachfühlen lässt, der Schmerz einer harten, kalten Realität. Danke für die Zeilen.
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Ich hab zu danken, fürs Lesen und Fühlen und Erinnern und für deine Worte…
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Zuerst dachte ich, Du hättest für die Kids eine feine Maulwurfsgeschichte geschrieben, aber dann kam mir schnell die Erleuchtung, daß es etwas sehr anderes war…
Vom Mauwurfsleben zum Menschenleben, beides scheinbar nicht so viel wert, wie es doch sein sollte.
Diese englische *Tradition* kannte ich nicht, aber ich erinnere mich an die Feldhamster, die meine drei Cousins erlegten u. ihre kleinen Fellchen so ähnlich aufhängten, wie die Maulwürfe auf dem Foto. Damals gab es Geld für die Feldhamster, weil sie so überhand genommen hatten u. für Geld taten sie alles – schien mir…
Es erinnert mich natürlich sehr (was ja auch Deine Absicht war) an die bösen Geschichten, die wir mit den armen flüchtigen Menschen erleben
LG von Bruni
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Ja, da gibt es viele böse Geschichten, und zu den bösesten zählen vielleicht, so finde ich, jene, bei welchen Flüchtlinge als Schädlinge wahrgenommen und verurteilt werden… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen, für deine Erinnerungen und deine Worte, liebe Bruni… Und herzliche Grüsse zurück…
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genau, so, als wären sie minderwertiger als andere Menschen…
Wußtest Du, daß das Unrechtsbewußtsein wegen der Versklavung anderer Menschen erst im 18. JH in den Menschen erwachte? Sagte jedenfalls ein sehr kluger Prof. Hösle u. ihm glaube ich es.
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Ich glaube, in manchen (viel zu vielen) Menschenköpfen liegt das Unrechtsbewusstsein noch immer im Tiefschlaf…
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Nein, es gefällt mir nicht… Es ist nämlich eine wahre Geschichte…
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Nein, gefallen kann’s einem wahrlich nicht… Trotzdem und überhaupt lieben Dank fürs Lesen!
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