Konservendosen.

Ein mittelgroßer Supermarkt hat das Haus, in dem sie aufwuchs, vollständig verschlungen; wo früher ihr Schlafzimmer war, sind heute die Konservendosen mit den winzigen Möhren und dem Mexiko-Mais-Mix und den Senfgurken und den kleinen Maiskolben, und während sie vor dem Regal steht und sich fragt, ob Mexiko-Mais-Mix in Mexiko auch Mexiko-Mais-Mix heißt, spürt sie einen … Weiterlesen Konservendosen.

Das verlorene Schloss.

Man fährt beinahe täglich, mit dem Zug oder mit dem Auto, daran vorüber, an jenem verwitterten Schild, das den Weg durch den Wald zu einem Schloss weist. Das Schild hat Rost angesetzt, eine Ecke ist leicht abgeknickt. Das Schloss selbst steht in einer Waldlichtung auf einer kleinen Anhöhe. Im Sommer, wenn die Bäume ihr dichtes … Weiterlesen Das verlorene Schloss.

Leichenwagen.

Er steht neben dem toten Körper. Das Wort Leiche widerstrebt ihm. Es wirkt so leer, so unpersönlich. Es klingt wie etwas, das nicht mehr funktioniert. Natürlich trifft dies eigentlich auch zu. Trotzdem möchte er den toten Körper nicht Leiche nennen. Auch wenn es nur eine Taube ist. Nur eine Taube. Nur. Die Beine ragen wie … Weiterlesen Leichenwagen.

Das letzte Kind.

In den kalten Nächten gefriert die Zeit, die Kühe geben nur noch saure Milch, auf riesigen Halden in entlegenen Gebieten verrottet altes Fleisch, in den Supermärkten sammelt sich Staub auf leeren Regalflächen, in den Krankenhäusern flackern einige letzte Lampen in stummen Korridoren, und er taumelt durch diese Welt, der jede Wärme entzogen ist, stolpert über … Weiterlesen Das letzte Kind.

Ungespielt.

Da wohnt niemand mehr, da klammert sich nur noch der Staub der vergangenen Zeit an die Dinge, da trägt jeder Widerhall nur noch ein ewiges Schweigen mit sich. Das Pulsieren ist vorbei, der Fluss ist ausgetrocknet, alles ruht. Irgendwo steht ein Klavier, doch wenn niemand mehr die weißen und schwarzen Tasten drückt, erklingt kein Ton … Weiterlesen Ungespielt.

Altpapier.

Sie wohnte im großen Backsteinhaus am Ende der Straße, in diesem unförmigen Brocken mit breiten Wänden und riesigen Fenstern. Hin und wieder sah er sie, wie sie auf hohen Schuhen über den Asphalt ging, ruhig und beinahe schwebend. Sie war schlank, ihr Rücken außergewöhnlich gerade, die hellen Haare flossen in sanften Wellen ihrem Gesicht entlang, … Weiterlesen Altpapier.

Kokosnusslikör.

Am Ende eines warmen Tages saß man dort, am Waldrand beim kleinen Felsen. Ein Feuer brannte, mitunter viel zu heiß und hell. Man trank Bier und Wein und klebrigen Kokosnusslikör, man rauchte Gras und Zigaretten, und hin und wieder lachte jemand völlig ohne Grund. Aus einem kleinen Radio mit CD-Spieler erklang Musik von Tocotronic. So … Weiterlesen Kokosnusslikör.

Socken, selektiv.

Es war warm am einzigen Abend mit ihr, trockene Grashalme kitzelten die Stellen zwischen den Zehen, man war barfuß im Park, und irgendwann wurde es dunkel, und man zog sich Socken und Schuhe wieder an, warum auch immer, denn es war nach wie vor warm, doch eigentlich ist es egal, es spielt keine Rolle, was … Weiterlesen Socken, selektiv.

Retro.

Früher waren da andere Farben in den Fotos. Da war mehr Gelb, da waren mehr rötliches Braun und mehr bräunliches Rot, da war weniger Blau, und wenn da Blau war, dann ein wärmeres Blau als heute. Die Kleider der damaligen Kinder wirkten dicker und wärmender als die Kleider der heutigen Kinder. Und wenn Bildbearbeitungsprogramme versuchen, … Weiterlesen Retro.

Bild ohne Ton.

In allen Bildern der verlorenen Zeit wohnt ein Klang; manchmal Musik, manchmal das eigene Atmen, laut und müde, manchmal auch nur das Rauschen, das bleibt, wenn alles schweigt. Alle Bilder, real oder irreal, tragen die Möglichkeit einer Geräuschkulisse, alle Bilder lassen sich in Gedanken vertonen. Nur dieses Bild nicht. Das Seil geht mitten durch den … Weiterlesen Bild ohne Ton.

Orion.

Der riesenhafte Jäger Orion befreite die Insel Chios von wilden Tieren. Dort verliebte er sich in Merope, die Tochter des Oinopion. Jedoch stimmte Oinopion einer Vermählung nicht zu. Wütend versuchte Orion, Merope mit Gewalt zu nehmen, was ihren Vater veranlasste, ihn betrunken zu machen und ihm die Augen auszustechen. Der erblindete Orion aber schritt gegen … Weiterlesen Orion.

Fernsehabend.

Manchmal vergisst sie, wie groß seine Hände sind. Riesige Pranken, fleischig und breit, unverhältnismäßig groß im Vergleich zum restlichen Körper. Sie hat ihren Vater schon immer für seine enormen Hände bewundert. Vielleicht tut sie es noch immer, aber es fühlt sich anders an als früher. Die Hände der Mutter sind dagegen verschwindend klein, doch sie … Weiterlesen Fernsehabend.

Dort, ein Buch.

Einst, vor vielen Jahren, stand ich in einer Buchhandlung im engen Raum zwischen den Regalen und blätterte in einem Buch. Der Autor hatte Briefe an Firmen oder bekannte Persönlichkeiten geschrieben. Diese Briefe und die Antworten darauf waren abgedruckt. Das Buch schien unterhaltsam zu sein, es lag in der Humor-Abteilung auf, neben anderen Büchern, die mit … Weiterlesen Dort, ein Buch.

Die Antwort.

Er war zärtlicher als andere, weniger egoistisch, das war angenehm, und obschon es nicht sonderlich ungestüm oder ekstatisch war, hatte sie einen Orgasmus, den ersten seit geraumer Zeit. Jetzt liegt er neben ihr und schaut sie an. Sie weicht seinem Blick aus. Das kann sie gut. Woher kommt die Traurigkeit in deinen Augen? Seine Frage … Weiterlesen Die Antwort.

Luigi und Gandhi.

Sein Name war Luigi, zumindest stand dieser Name auf dem kleinen Holzschild, mit welchem er seinen Imbisswagen beschriftet hatte, und damals glaubte sie fast alles, was sie sah, vor allem am Strand in der Nähe von Pescara an der italienischen Adriaküste. Sie war sieben Jahre alt, acht Jahre alt, dann neun, dann zehn, elf, zwölf, … Weiterlesen Luigi und Gandhi.

Eine Ahnung.

Vielleicht gibt es das Wissen, das definitive, erst im Rückblick, vielleicht ist alles, was gerade ist oder noch kommt, nur Glauben und Hoffen und Bangen, und vielleicht ist dieses nur gar nicht angebracht, und manchmal redet man voller Bitterkeit und betrübtem Zorn davon, dass man keine Ahnung von Liebe habe, und vielleicht weiß man, dass … Weiterlesen Eine Ahnung.

Vergeblich.

Als sie ein Kind war, sprach ein alter Mann im Religionsunterricht von Vergebung. Sie schaute aus dem Fenster auf die kleine Wiese vor dem Schulhaus. Dort stand ein Baum, und auf dem Baum saß ein Vogel, und der Vogel sang ein Lied, und obwohl sie es nicht hören konnte, wusste sie, wie es klang. Sie … Weiterlesen Vergeblich.

Nivellierung.

Eigentlich warst du ja nur zum Ficken gut, sagte er. Blies den Rauch seiner Zigarette in den Raum, lächelte sein arrogantestes Lächeln, schaute auf die Uhr und ging. Sie blieb zurück, allein in ihrer kleinen Wohnung, während um sie herum die Dämme brachen und die Säulen kollabierten. Dann zogen die Wolken auf. Sie strauchelte und … Weiterlesen Nivellierung.