Manchmal vergisst sie, wie groß seine Hände sind. Riesige Pranken, fleischig und breit, unverhältnismäßig groß im Vergleich zum restlichen Körper. Sie hat ihren Vater schon immer für seine enormen Hände bewundert. Vielleicht tut sie es noch immer, aber es fühlt sich anders an als früher. Die Hände der Mutter sind dagegen verschwindend klein, doch sie wusste sich stets zu behaupten, auch mit kleinen Händen gelingen laute Gesten, und mittlerweile zittern die Hände des Vaters noch stärker als die Hände der Mutter.
Sie ist bei ihren Eltern zu Besuch, sie haben gegessen und nun sitzen sie nebeneinander auf dem Sofa im Wohnzimmer. Sie hat den Platz in der Mitte, wie immer, wenn sie zu dritt auf dem Sofa gemeinsame Zeit verstreichen lassen, und sie wundert sich, wann und weshalb diese stillschweigend vereinbarte Sitzordnung ihren Anfang nahm. Der Vater hält die Fernbedienung wie eine Waffe in seinen riesigen Händen, drückt in langsamem Rhythmus auf einen Knopf und wechselt die Kanäle. Irgendwann läuft eine Nachrichtensendung, und er hört auf zu drücken, lässt die Fernbedienung in den Schoss sinken. Die Mutter schaut ihn kurz prüfend an, dann starrt sie wieder auf den Bildschirm. Dort redet ein Mann über eine kulturelle Veranstaltung. Er ist attraktiv und charmant, er weiß sich auszudrücken, spricht eloquent und in angenehmer Stimmfarbe. Die Mutter liebt ihn, zumindest himmelt sie ihn an, findet ihn ganz reizend und wundervoll, und wahrscheinlich löst der Mann im Fernseher Dinge und Gefühle in ihr aus, die der Mann auf der anderen Seite des Sofas längst nicht mehr zu bewirken vermag, es womöglich nie gekonnt oder wenigstens versucht hat.
Ihr Grinsen lässt die Mutter wie ein Schulmädchen mit faltiger Haut wirken. Derweil sitzt der Vater alt und matt im bläulichen Licht. Er sieht aus wie einer, der seit Stunden auf einen Zug wartet und nur deshalb nicht einschläft, weil der Zug von Bedeutung ist. Irgendwann hellt sich die Miene des Vaters plötzlich auf, und dann ist sie da, direkt vor ihm, die Wettermoderatorin. Sie hat ein gleichmäßiges Gesicht und lange Haare, die es wie Stromschnellen umfließen. Ihr Ausdruck strahlt eine gewisse Natürlichkeit aus, sie ist ausnehmend schön und betörend, die Brüste sind groß. Der Vater liebt sie, die Brüste, die ganze Frau, zumindest himmelt er sie an, findet sie ganz reizend und wundervoll, und wahrscheinlich löst die Frau im Fernseher Dinge und Gefühle in ihm aus, welche die Frau auf der anderen Seite des Sofas längst nicht mehr zu bewirken vermag, es womöglich nie gekonnt oder wenigstens versucht hat.
Sie sitzt zwischen ihren Eltern, wie eine schützende Wand, fühlt sich wie eine stumme Komplizin, ohne zu wissen, welche Seite ihr näher ist. Und während die Eltern sich von Menschen im Fernsehen bezaubern lassen, nippt sie an ihrem Weinglas und fragt sich, ob sie in der Lage sein wird, einfach zuzuschauen, wenn die Eltern immer älter und kleiner werden. Sie fragt sich, was im Wohnzimmer bleibt, wenn der Fernseher ausgeschaltet ist und sie nach Hause geht. Sie fragt sich, wie sie mit den seltsamen Schwärmereien ihrer Eltern umgehen soll. Sie fragt sich, ob sie eine gute Tochter ist. Und sie fragt sich, ob sie sich diese Dinge zu häufig fragt. Oder zu selten.

oh, ein bisschen traurig irgendwie. 😦
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Trotz Traurigkeit lieben Dank dir fürs Lesen…
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Sehr schön eingefangene Stimmung aus der zentralen Perspektive! Ich mag diese sprachlose Sehnsucht, die nur noch über den Bildschirm einen Ausdruck findet, und auch nur in den Gesichtern der Menschen. Und dann diese klassische Rollenverteilung. Erfrischen traurig erzählt!
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Oh, freut mich, dass der Text dir gefällt. Vielen Dank fürs Lesen und Eintauchen in die Stimmung und für deine Worte!
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Ich will auch auf diese Liste 🙂
Wie immer, fein beobachtet. Ich bewundere diese Fähigkeit, dass man deine Texte sehr oft wie durch die Augen und Herzen der Protagonisten lesen und fühlen kann. Und weil ich am Ende immer denke: Schade, schon zu Ende, wäre ich ebenfalls sehr begeistert von einem Buch voller Disputnik-Geschichten. Ich lass den Zaunpfahl mal hier …
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Oha, das ist sehr freundlich, vielen lieben Dank! Auch für den Zaunpfahl; falls er gross und furchteinflössend genug ist, werde ich ihn gerne verwenden, um gegenüber widerwilligen Verlagsleitenden zu argumentieren…
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Du solltest echt ein Buch veröffentlichen (ich würds kaufen) 🙂
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Dankedanke! (Und ich nehm dich auf die Liste; ist ziemlich einsam dort, aber trotzdem…)
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(glaub ich – deine Texte sind so klasse, da gibt es sicher mehrere pot. Leser)
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(Najamalsehen. Aber jedenfalls nochmals lieben Dank.)
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(nicht)
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hm, Du meinst, nur noch das Anhimmeln bleibt den Alten, lieber Disputnik?
Aber es ist ein anderer/eine andere, die nicht auf dem Sofa mit Platz nehmen wollte, sondern viel lieber auf dem Bildschirm erscheint?
Schöne Aussichten wäre dann auch ein guter Titel gewesen 🙂
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Naja, eine Meinung ist’s ja nicht, nur eine Szene. Und das Anhimmeln ist ja längst nicht den Alten vorbehalten…
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken, liebe Bruni…
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