Die Finger stolpern zunächst zaghaft über die nackte Haut, beinahe schüchtern, als wäre da eine Gefahr, der sie sich zu erwehren hätten. Sie gleiten vorsichtig über den Hals und die Schulterknochen, suchen sich dann Wege zwischen den Brüsten hindurch zum Bauch, zu den Hüften, zum Schoss. Allmählich werden sie bestimmter, die Bewegungen drängender.
Sich zu berühren, nur sich selbst zu spüren, bedeutet für sie eine Art der Rückkehr, eine Beschränkung auf das Wesentliche, die einzige Form des bedingungslosen Vertrauens. Nach Jahren, in welchen sie ihren Körper als Feind betrachtete und er ihr zugleich als Versteck diente, bewohnt sie ihn heute mit einem ausgeprägten Bewusstsein. Sie wird wohl nie zu behaupten wagen, sich und ihren Körper zu lieben, aber sie mag ihn, er ist ein Zuhause.
Eine Zeit lang war er zum Instrument geworden. Vielleicht versuchte sie, die lange Abstinenz auszugleichen, eine Balance herzustellen, doch irgendwann entglitten ihr die Dinge. Es ging nicht mehr um Sehnsüchte, nicht um Verlangen, nicht um Lust, schon gar nicht um Liebe; es ging nur um Sex. Irgendwann, nach einer weiteren Nacht mit einer namenlosen Peripherbekanntschaft, hörte sie einfach damit auf. Sie zog sich zurück, jedoch ohne sich abzukapseln. Es fühlte sich an, als ob ein heftiger Sturm plötzlich zur Ruhe kommt. Und diese Windstille, sie behagte ihr und weitete den Blick.
Sie weiß nicht, wann sie zum letzten Mal mit einem Mann oder einer Frau geschlafen hat, doch es spielt auch keine große Rolle, da ist nicht viel, was fehlen würde, nur das Berühren von Haut, das vermisst sie, und vielleicht ist Selbstbefriedigung für sie auch darum eine außerordentlich bewusste und sinnliche Erfahrung. Sie freut sich jeweils darauf, mag das sanfte Zerren der Erwartung. Heute jedoch ist da eine gewisse Taubheit. Während ihre Hände immer heftiger und energischer über die Haut gleiten, sich zwischen die Beine drängen und die weichen Brüste kneten, bleibt das Hochgefühl aus, da ist kein Kribbeln, kein Schaudern.
Sie braucht Bilder im Kopf, um sich aus dem trivialen Umfeld ihres Schlafzimmers zu lösen. Manchmal sind es Frauen, manchmal Männer, die sie in ihren Gedanken häufig in kleine Geschichten einbindet. Doch dieses Mal scheint keine Geschichte zu entstehen. Ähnlich wie in manchen Horrorfilmen, in denen scheinbar banale Situationen von kurzen Zwischenschnitten unterbrochen werden, in welchen grauenhafte Szenen zu sehen sind, drängen heute Bilder wie Störfaktoren in ihren Kopf.
Sie sieht eine rostige Eisenstange und denkt an jene Meldung in den Nachrichten, als in Indien eine Frau von mehreren Männern in einem Bus vergewaltigt wurde, unter anderem mit einer Eisenstange. Sie sieht den leblosen Körper eines Kindes, das im Meer ertrunken ist und an den Strand gespült wurde. Sie sieht die graue Haut und den seltsam kleinen Kopf ihrer Großmutter, wie er tot auf einem viel zu großen Kissen lag. Sie sieht Sylvia Plath, wie sie den Gashahn aufdreht und den Kopf in den Ofen legt. Sie sieht Berge von Totenschädeln in einem Fernsehbeitrag über den Holocaust.
Die Bilder sind lediglich Einschübe, ihr Anblick währt nur Bruchteile eine Sekunde, doch sie reichen, um zu lähmen. Die Hand erstarrt, die Finger krümmen sich und graben sich in das Fleisch des Bauches, aber da ist keine Lust im Schmerz. Sie fühlt sich, zumindest für den Moment, nicht mehr wohl in ihrer Haut. Sie steht auf, geht in die Küche, schaltet das Deckenlicht ein, zündet sich eine Zigarette an und bläst den Rauch in die Helligkeit des Raumes. Während sie beobachtet, wie der graue Dunst in merkwürdige Formen zerfließt, denkt sie an die Bruchteile, an die Bilder, die ihre Lust zunichte machten. Irgendwann bemerkt sie, dass die Zigarette längst erloschen ist, auf dem Boden liegt Asche.
Schließlich geht sie zurück ins Schlafzimmer, legt sich wieder ins Bett. Sie lässt ihre Finger über die Haut wandern, über alle Glieder, über alle Teile ihres Körpers. Dann verharrt sie, die Hände ruhen im Schoss, und sie wartet, bis die Bilder zurückkehren.

Über Indien wird jede Menge Unsinn hinsichtlich der dortigen Geschlechterkultur in den hiesigen Medien verbreitet.
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Das glaub ich gern, zumal es wohl gerade in Indien auch nicht nur die eine und einzige Geschlechterkultur/-wahrnehmung geben dürfte… Lieben Dank dir für deine Gedanken…
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Die Menschen dürfen einfach nicht wegsehen.
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Es wäre schön, wenn sie zumindest nicht ignorieren oder gar dagegenhetzen… Danke dir fürs Lesen und für deine Gedanken…
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Mir ist auch nicht wohl in meiner Haut, lieber Disputnik.
Mir ist nicht wohl, wenn ich die Flüchtlingsströme sehe, wenn ich weiß, daß in der Stadt, in der ich 15 Jahre u. a. so etwas wie soziale Arbeit leistete, nun auch ein Flüchtlingsheim brennt und in dem Touristenörtchen, die dem die Schwiegereltern meiner älteren Tochter ein schneeweißes schönes Häuschen besitzen, ein totes Kind an Land gespült wird. Nein , mir ist unwohl in meiner Haut und ich weiß keine Lösung, weil ich weiß, das sich das Verhalten der Menschen niemals ändern wird…
Wenn Männer auf die Idee kommen, eine Frau mit einer Eisenstange zu vergewaltigen, dann weiß ich nur eines. Wir sind weit davon entfernt, so sein zu können, daß wir unbedenklich dort helfen, wo Hilfe Not tut. Dann sind wir nur das Menschentier unter all den anderen Tieren…
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Das Unwohlsein, deines, jedes im Moment, es ist nicht gut, aber vielleicht hat es zumindest ein wenig Gutes, vielleicht öffnet es die Augen noch ein bisschen mehr, vielleicht auch die Herzen, wer weiss…
Vielen lieben Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und Hinsehen (mit offenen Augen) und für deine Worte…
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Ich lese gerne, wie du schreibst. Und authentisch ist es auch noch. Danke!
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Vielen lieben Dank dir, das freut mich sehr!
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