Kaninchen.

Du bist das Kaninchen im Scheinwerferlicht, wie in dem Song, den Thom Yorke singt, und im Musikvideo zum Song läuft ein Mann durch einen Straßentunnel, wird immer wieder angefahren, fällt hin, wird beschimpft, und schließlich stellt er sich mitten auf die Straße, mit nacktem Oberkörper, breitet die Arme aus und wird von einem Auto erfasst, … Weiterlesen Kaninchen.

Das gesegnete Zimmer.

Im Jahr 1992 war Hong Kong noch Kronkolonie von Großbritannien, die Übergabe an China aber längst beschlossene Sache. Chris Patten war im Juli zum achtundzwanzigsten und gleichzeitig letzten britischen Gouverneur berufen worden und bemühte sich redlich, die keineswegs problemlosen Beziehungen zur Volksrepublik in den letzten Jahren vor dem Machtwechsel durch liberal-demokratische Reformen zusätzlich zu strapazieren. … Weiterlesen Das gesegnete Zimmer.

Da sein.

Sie ist immer da. Wenn das Kind mit dem Rad hinfällt und sich das Knie blutig schrammt, ist sie da. Wenn die Heizung ausfällt und der Handwerker kommt, ist sie da. Wenn der Mann betrunken heimkehrt, ist sie da. Wenn die Nachbarin verreist und die Katze gefüttert werden muss, ist sie da. Wenn irgendwo Wut … Weiterlesen Da sein.

Das perfekte Versteck.

Ein Stück Rinde steht vom Holzstapel ab, ragt hinaus und zeichnet sich wie ein Dolch vor dem schwarzrotblauen Himmel ab, der sich von Minute zu Minute verdunkelt. Er würde das merkwürdige Objekt gerne berühren, es in die Hände nehmen, doch es befindet sich zu weit oben; um es zu erreichen, müsste er am Holzstapel hochklettern, … Weiterlesen Das perfekte Versteck.

Sie denkt an Thomas.

Sie schließt die Augen und denkt an Thomas, den dürren Thomas mit der krummen Nase. Sie hat Thomas nie gemocht, damals in der Grundschule. Zwar hat er niemals etwas Böses getan, doch er war irgendwie lästig, ein unangenehmer Zeitgenosse, zudem war seine Stimme fürchterlich schrill, beinahe klirrend. Einmal spielten sie Fangen auf dem Pausenplatz, und … Weiterlesen Sie denkt an Thomas.

178 Kilometer.

Dass es ein Fehler sein würde, wusste sie schon, bevor sie ihn machte, aber diese Gewissheit hat sie nicht davon abgehalten. Man sagt, dass man aus Fehlern lernen könne, doch bisher fühlt sie sich nicht klüger. Nur verloren. Und schwankend. Und fremd. Immerhin ist sie frisch geduscht, die Seife im Hotel duftet, wie Seife in … Weiterlesen 178 Kilometer.

Das Maß aller Dinge.

Vera schraubt die Kappe des Lippenstifts ab, führt ihn an ihren Mund, trägt ihn auf, achtsam, sparsam, nicht zu viel, nicht zu wenig, mit größter Akkuratesse. Das richtige Maß ist wichtig, das richtige Maß ist entscheidend, das ist bei allen Dingen so. Sie schürzt die Lippen und schaut in den Spiegel. Die Frisur sitzt perfekt, … Weiterlesen Das Maß aller Dinge.

Warmwasser.

Der Tag hängt stumm in den Räumen. Vor den Fenstern lässt der hellgraue Himmel die Landschaft matt und bleich wirken, wie eine altes Foto in ungesättigten Farben. Sie lauscht der Stille, fügt sich in das Schweigen, und als sie sich räuspert, zuckt sie erschrocken zusammen, so laut und grob dringt das Geräusch aus ihrer Kehle … Weiterlesen Warmwasser.

Brulguama.

Er steht am Bahnhof und versucht, die Plakate an den Wänden zu entziffern, doch da ist nichts, woran er sich festhalten könnte. Eine leicht bekleidete Frau sieht ihn von einem der Plakate an, in ihrem Blick liegt etwas Forsches und Forderndes, vielleicht auch Aufmunterndes. Neben ihrem Kopf steht das Wort Brulguama! geschrieben, in großen Lettern … Weiterlesen Brulguama.

Meeresgrund.

Im Supermarkt ist jeder Salat in der Gemüseabteilung verfault, jeder einzelne Salatkopf grinst mit braunen Blättern aus seiner Kunststoffverpackung. Sie hebt einen Salatkopf hoch, wendet ihn in ihren zitternden Händen und knallt ihn wieder zurück ins Regal, greift sich den nächsten Salatkopf und schleudert auch diesen wieder zurück. Alles ist verfault! brüllt sie in die … Weiterlesen Meeresgrund.

Socken.

«Irgendwann wird das Lügen zum Reflex. Irgendwann erzählen sich die Geschichten von selbst, und es sind nicht mehr wirklich deine eigenen, deine wahrhaftigen Geschichten. Man wird zum Protagonisten in einem Theaterstück. Ich kann das nicht mehr.» «Und was willst du tun?» «Aufhören.» «Inwiefern?» «Einfach aufhören.» «Aha.» «Ja.» «Gibt’s keinen anderen Weg?» «Es gibt immer einen … Weiterlesen Socken.

Kleine Fluchten.

Eigentlich raucht er nicht, hat noch nie geraucht, konnte sich nie dafür begeistern. Jetzt kauft er sich eine Schachtel, setzt sich auf eine kleine Mauer am Seeufer, zündet sich eine Zigarette an, hustet kurz und heftig und lässt dann seinen Blick über die Wellen gleiten. Eigentlich gibt sie sich jedes Wochenende dem Nachtleben hin, zieht … Weiterlesen Kleine Fluchten.

Aus dem Bild.

Sie geht mit stummen Schritten über Wiesen, gleitet schweigend durch Wälder, atmet Natur und Reinheit ein. Sie registriert, wie der Lärm allmählich verebbt, sie hört das Rauschen des Blutes im Ohr. Sie berührt ihr Gesicht, berührt den gesamten Körper, spürt die Wärme ihrer Haut. Sie zieht ihre Schuhe aus, streift störende Kleidung ab. Irgendwann stellt … Weiterlesen Aus dem Bild.

Flüchtling.

Herr Talpa war eigentlich ganz glücklich. Er hatte sich ein schönes Heim geschaffen, weit verzweigt und durchaus stabil, mit mehreren Ausgängen und zahlreichen Rückzugsmöglichkeiten. Es war vielleicht nicht viel, aber es war ein Zuhause, und Herr Talpa kannte nur wenige Worte, die schöner waren. Manchmal, wenn er auf Artgenossen traf, erzählte er beinahe übermütig von … Weiterlesen Flüchtling.

Der Pegel sinkt.

Die kleinen Blasen auf der Wasseroberfläche verbinden sich zu fragilen Landmassen, ändern stetig ihre Formen, bilden kleine Inseln und ganze Kontinente. Wenn sie in den Schaum pustet, reißen die Gebilde auf, setzen sich neu zusammen. Und immer ist da dieser spezifische Klang, ein kaum greifbares Rauschen, ausgelöst durch die Verschiebungen und das Zerplatzen der kleinen … Weiterlesen Der Pegel sinkt.

Iris.

Den endgültigen Entschluss fasst sie, als sie ihre Zungenspitze um seine Eichel kreisen lässt, schließlich ihre Lippen um seinen Penis legt und den Brechreiz erträgt. Nachdem sich die Gewissheit manifestiert hat, wirkt die Situation einen Moment lang so grotesk, dass sie verharrt. Als er an ihren Haaren zerrt und auf ein Weitermachen drängt, tut sie … Weiterlesen Iris.

In absentia.

Schon bei ihrer Geburt war sie nicht wirklich da. Zur Welt kam sie ohne Bewusstsein, und erst nach einigen Sekunden konnte ein Arzt ihre Atmung und ihren Kreislauf in Gang bringen. In der Schule betrat sie den Pausenplatz jeweils erst, wenn die Pause zu Ende ging, und häufig blieb sie den Unterrichtsstunden fern, sammelte lieber … Weiterlesen In absentia.

Abbiegen.

Sie betrachtet ihre Hände, die das Lenkrad umklammern. Die Knöchel treten hervor, ragen empor wie baumlose Hügel. Bei einem Knöchel blättert die Fassade ab, die Haut ist geschunden, aufgeplatzt, doch sie kann sich nicht erinnern, etwas oder jemanden geschlagen oder zumindest heftig berührt zu haben. Zaghaft streichelt sie den verletzten Knöchel mit dem Daumen der … Weiterlesen Abbiegen.