Sie schließt die Augen und denkt an Thomas, den dürren Thomas mit der krummen Nase. Sie hat Thomas nie gemocht, damals in der Grundschule. Zwar hat er niemals etwas Böses getan, doch er war irgendwie lästig, ein unangenehmer Zeitgenosse, zudem war seine Stimme fürchterlich schrill, beinahe klirrend. Einmal spielten sie Fangen auf dem Pausenplatz, und mitten im Spiel blieb Thomas stehen, hielt sich die Hand vor die Augen und verkündete mit seiner klirrend schrillen Stimme, dass ihn nun niemand mehr sehen könne, weil er ja auch niemandem mehr sehen könne. Die anderen Kinder lachten Thomas aus, wahrscheinlich lachte sie mit, schließlich war es dumm, was Thomas sagte, war etwas, das Babys glaubten und nicht Kinder in ihrem Alter. Sie wusste längst, dass man zu sehen ist, auch wenn man nichts und niemanden sehen kann. Eigentlich hätte dies auch Thomas wissen müssen, und womöglich wusste er es auch, wollte es aber nicht wahrhaben oder sich dagegen wehren. Und darum denkt sie wohl jetzt an Thomas.
Sie schließt die Augen und stellt sich vor, dass sie unsichtbar ist und von niemandem gesehen werden kann, nicht einmal vom Spiegel. Ihre Unsichtbarkeit soll nicht dazu dienen, ihre Neugier zu stillen. Sie will sich nicht in fremde Häuser einbrechen und wie ein Geist durch die Räume schleichen, Geheimnisse ergründen und vertraulichen Gesprächen lauschen. Sie will auch nicht bekannte oder unbekannte Menschen beim Sex, beim Duschen, beim Nasenbohren oder anderen vergleichsweise intimen Tätigkeiten beobachten. Auch will sie niemandem einen Streich spielen, will niemanden erschrecken, will keine Bilder von Wänden werfen, keine Weingläser schweben lassen oder den Eindruck von führerlos fahrenden Fahrzeugen erzeugen. Sie will einfach unsichtbar sein, um nicht gesehen zu werden. Sie will den Blicken anderer Menschen entfliehen, wenn auch nur vorübergehend, will allein und ungestört sein, will sich keinen Betrachtungen und Urteilen aussetzen, will einfach einatmen und ausatmen und zugegen sein, ohne dass irgendjemand sie wahrnehmen könnte. Und jetzt denkt sie an Thomas und fragt sich, ob er damals wohl auch aus diesem Grund unsichtbar sein wollte.
Sie schließt die Augen, stellt sich vor, unsichtbar zu sein, und wartet ab, was geschieht. Sie atmet und lauscht, sie registriert jeden Klang; das kurzzeitige Zischen von vorüberfahrenden Autos, das Rauschen des Blutes, sie spürt die Temperatur der Luft, riecht den Duft ihres Parfums. Mit geschlossenen Augen verlässt sie die relative Sicherheit ihrer Wohnung, geht hinaus in die Welt, noch immer unsichtbar, und je länger sie durch die Gassen der Stadt geht, desto unbeschwerter fühlt sie sich, beseelt von einer ungeahnten Freiheit. Niemand nimmt Notiz von ihr, niemand schaut sie an, sie muss keinen Blick bewerten, muss auf niemanden reagieren. Sie geht zum großen Marktplatz, setzt sich auf den Brunnen in dessen Mitte und genießt die Stille in ihrem Kopf, die Unbeschwertheit des Moments. Irgendwann sieht sie ein wenig zur Seite und erblickt einen Mann, der sich ihr nähert. Er ist hochgewachsen und dürr, seine Nase ist krumm, er wirkt ein wenig linkisch, aber nicht unattraktiv. Sie glaubt, ihn zu erkennen, doch erst, als er sie anlächelt, ist sie sicher, dass es sich um Thomas handelt. Einen Moment lang ist sie irritiert von seinem Lächeln, von seinem Blick, doch dann erwidert sie den Blick, erwidert das Lächeln. Als sie sich gegenüberstehen, schauen sie sich in die Augen, wie Vertraute, Verbündete, zwei Unsichtbare und Sehende, eingeweiht in ein Geheimnis. Thomas streckt seine Hand aus, sie greift danach, und dann tanzen sie, tanzen um den Brunnen auf dem großen Marktplatz, tanzen wahrscheinlich alles andere als elegant, aber umso leidenschaftlicher, tanzen und singen, ohne dass sie jemand sehen oder hören kann, tanzen so lange, bis sie außer Atem geraten, und als der Tanz zu Ende ist, lehnen sie am Brunnen, hören dem Plätschern des Wassers zu und lachen.
Als sie die Augen öffnet, erschrickt sie zunächst, hat nicht damit gerechnet, ihre Wohnung zu sehen, die Bilder an den Wänden, die rechteckigen Fragmente der Welt vor den Fenstern, und erst, als sie sich selbst im Spiegel erblickt, kann sie die Realität tatsächlich wieder greifen. Sie räuspert sich und grinst ein wenig verlegen, und dann denkt sie an Thomas und fragt sich, wo er wohl jetzt ist und was er tut und ob er noch immer weiß, dass ihn niemand mehr sehen kann, wenn er die Augen schließt.
