Eines Tages fiel der Großvater beim Angeln von einem Stein wie ein Stein ins Wasser und war tot. Sie hat den Großvater nie gekannt, denn als er fiel, war sie gerade eine Woche alt, und in diesem Alter kennt man niemanden, erkennt höchstens die eigenen Eltern als vertraute Wesen und findet die großen Nasen lustig. Jahrzehnte später ist der Großvater noch immer tot, und sie ist ziemlich sicher, dass sich nichts daran ändern wird.
Er war der Vater ihres Vaters, während der Vater ihrer Mutter die Mutter ihrer Mutter verließ, bevor ihre Mutter zur Welt kam. Ihre Mutter wuchs ohne Vater auf, da war auch nie ein Ersatzvater, die Mutter ihrer Mutter blieb allein und alleinerziehend. Die Mutter ihres Vaters blieb ebenfalls allein, nachdem der Großvater starb, und irgendwann starb auch sie.
Insgesamt hatte sie also einen Großvater, der gar nie da war, einen Großvater, der eine Woche lang da war, und zwei Großmütter, die immer irgendwie da waren, bis auch sie starben, nicht beim Angeln, nicht wie ein Stein, sondern ganz normal, weil ihre Körper den Betrieb einstellten. Und auch wenn man sich eigentlich nicht fragen sollte, welchen Großelternteil man am liebsten hatte, fragt sie sich manchmal, welchen Großelternteil sie am liebsten hatte, und die Antwort ist immer eindeutig.
Sie hat den Großvater damals natürlich nicht gesehen, als er auf dem Stein stand und angelte, doch heute sieht sie ihn, sieht ihn immer wieder, und immer wieder klettert sie selbst auf den Stein, stellt sich neben ihn und schaut zu ihm hoch. Sie kennt sein Gesicht nur von Fotos, doch wenn sie dann neben ihm steht, registriert sie jedes Detail dieses Gesichtes, auch jene, die den Fotos verborgen blieben. Die Stoppeln, die am Kinn etwas unkoordiniert aus der Haut ragen. Die Furchen und Falten, die kleine Landschaften malen. Die Nase, voluminös und ein wenig gekrümmt. Die Mundwinkel zucken leicht, während der Großvater die Angel ganz langsam über das Wasser zieht. Sie sieht die Großzügigkeit in seinem Blick, die Wärme, die Gutmütigkeit. Ihr Vater hat einige Male von ihm erzählt, dabei aber nur Skizzen des Großvaters erstellt. Sie malt die Skizzen aus, verleiht ihnen Farbe und Tiefe. Seit Jahrzehnten ist er tot, doch sie macht ihn lebendig.
Während sie dort oben auf dem Stein neben ihm steht, ist sie sicher, und auch der Großvater ist sicher, denn mit ihr an seiner Seite kann er nicht vom Stein wie ein Stein ins Wasser fallen. Er beschützt sie, sie beschützt ihn, und wie sie nebeneinander auf dem Stein stehen, spielt es keine Rolle, dass sie eigentlich nur eine Woche lang gleichzeitig gelebt haben. Er ist tot, aber er ist da, und sie hofft, dass sich nichts daran ändern wird.

eine nicht alltägliche idee sehr gut ausgearbeitet und rübergebracht. klasse.
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Eine schöne Geschichte, berührend erzählt. Und wie Geschichte sich so ähnlich ist: mein Großvater mütterlicherseits starb vor meiner Geburt, fiel sozusagen auch wie ein Stein, doch nicht ins Wasser sondern ins Reich der Toten. Und der Großvater väterlicherseits verließ meine Oma lange vor meiner Geburt, als mein Vater selbst noch jung war und ließ sich nie mehr blicken. Beide Omas blieben bis an ihr Lebensende alleinlebend. Liebe Grüße, Bernd
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und fürs Teilen deiner/eurer berührenden Geschichte! Herzliche Grüsse zurück…
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