Bei Anbruch der Dunkelheit steigt Vera auf die Dachterrasse, die zum großen alten Wohngebäude gehört, und zündet sich eine Zigarette an. Mehr als zwei Packungen hat sie geraucht an diesem Tag, der sich nun unweigerlich auflöst in der kühlen Nachtluft. Sie bläst den Rauch hinterher, als letztes Geleit. Vor ihr liegt die Stadt, und obwohl sie zuvor noch nie hier gewohnt hat, kennt sie die grauen und roten Mauern und Häuserwände schon lange, die Straßenzüge, die gelben und weißen Lichter, sie sehen aus wie überall. Trotzdem bleibt alles fremd. Sie fokussiert auf die Glut an der Spitze ihrer Zigarette und beißt auf ihre Unterlippe.
Sie ist hierhergezogen, in eine neue Wohnung, in eine neue Stadt, in ein neues Dasein, doch es ist kein Neuanfang, es soll kein Neuanfang sein, denn sich selbst nimmt Vera immer mit, sich selbst wird sie nicht los, will es auch nicht. Es geht nicht ums Neuanfangen. Es geht ums Weitermachen. Weitermachen im Rahmen ihres Lebens, weitermachen vor dem Hintergrund ihrer Vergangenheit, weitermachen als zentrale Figur in ihrer Geschichte. Jede Figur braucht ein Leben, eine Vergangenheit, eine Erzählung. Jede Figur braucht eine Geschichte. Sie will ihre eigene Geschichte weiterschreiben, und zwar nach ihren eigenen Vorstellungen, ihren eigenen Konditionen.
Zurück in der kleinen Wohnung, die erst eine Behausung und noch lange kein Zuhause ist, setzt sich Vera an den Küchentisch und klappt ihren Laptop auf. Sie liest einige der Zeilen, die sie geschrieben hat, und legt dann ihre Finger auf die Tastatur. Vera schließt ihre Augen und wartet, bis die Finger zu zucken beginnen. Dieses Zucken, es ist das, was die Geschichte vorantreibt. Es ist das, was ihren Figuren einen Charakter verleiht, sie mit Persönlichkeit füllt, mit Leben. Jede Figur braucht ein Leben, eine Vergangenheit, eine Erzählung. Jede Figur braucht eine Geschichte.
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Nathalies Hände streichen mit sanftem Druck über den Modellierton, verleihen der Masse klare Formen. Sie lassen Konturen entstehen, betonen eine Kante, glätten Risse. Der Tonklumpen zeigt allmählich erkennbare Umrisse, die Form lässt ein Lebewesen erahnen, eine Person vielleicht. Doch der Kopf, er ist zu groß, der Hals ist zu schmal, und bevor die Figur weiter an Klarheit gewinnen kann, wird sie von den Fingern zermalmt und wieder zum groben Klumpen. Nathalie lässt den Klumpen auf die Tischplatte fallen und flucht leise. Dann atmet sie ihre Enttäuschung aus und wendet sich ab, als wollte sie der widerspenstigen Masse ihre Unzufriedenheit verdeutlichen.
Vor ihr auf einem kleinen Regal stehen zahlreiche kleine Figuren, eine Prozession von Tonmenschen. Sie alle sind schmal und hager, winzige dünne Leute, die sich gelangweilt einordnen in einen gleichförmigen Tross, ohne jemals irgendwo anzukommen. Sie unterscheiden sich nur geringfügig voneinander, doch bei genauem Hinsehen zeigen sich minimale Abweichungen, unscheinbare Eigenheiten, ein stärker gekrümmter Unterarm vielleicht, oder ein leicht zur Seite geneigter Kopf.
Nathalie nimmt eine der Figuren vom Regal, dreht sie in ihren feingliedrigen Fingern. Es ist ein großer, schmaler Mann, der Kopf hängt seltsam schlaff hinab, als wäre der Hals ausgeleiert. Mit dem Daumen folgt sie den Rundungen, stolpert über die Nase und das Kinn, die als kleine Spitzen aus dem Gesicht ragen. Sie lässt die Figur in ihre Handfläche rollen, ballt die Hand vorsichtig zur Faust und führt sie zu ihrem Gesicht, atmet tief ein. Dann stellt sie die Figur wieder zurück ins Regal und steht auf.
Sie geht in die Küche, nimmt die angebrochene Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und füllt ein Glas bis knapp unter den Rand. Nathalie stellt sich ans Fenster und raucht die nächste Zigarette. Während sie auf die nahen Hausfassaden starrt, versucht sie, der Tonfigur auf dem Regal einen Charakter zu verleihen, ihren schmalen Leib mit Persönlichkeit zu füllen. Die Figur braucht ein Leben, eine Vergangenheit, eine Erzählung. Jede Figur braucht eine Geschichte.
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Er war schön und stark, klug und charmant, groß und schlank, er war gefühlvoll und achtsam, witzig und liebenswert, er war alles, was gemeinhin an einem Mann geschätzt oder gar geliebt wird. Doch er hatte einen Makel, eine kaum zu tarnende Schwäche. Seine Stimme war nicht die Stimme eines Mannes, der geschätzt oder gar geliebt wird. Seine Stimme war nicht einmal die Stimme eines Mannes. Wenn sie sich überhaupt mit einem menschlichen Organ hätte vergleichen lassen, dann mit der plärrenden Stimme eines quengelnden Kindes. Jedes Mal, wenn er seinen Mund öffnete und sprach, klang es, als würde ein hässlicher kleiner Junge ein zu Boden gefallenes Erdbeereis betrauern. Zumeist blickten die Zuhörenden betreten zu Boden, wenn sie seine Stimme hörten, vielleicht auf der Suche nach dem Erdbeereis. Manche lachten kurz auf, andere wendeten sich möglichst rasch ab. Dass ihn in diesem Momenten niemand so anschaute, wie man einen Mann anschaut, der geschätzt oder gar geliebt wird, entging ihm natürlich nicht. Er versuchte, sich zu räuspern und seiner Stimme mehr Substanz zu verleihen, doch es gelang nicht, im Gegenteil, das Plärren wurde nur noch durchdringender. Er begann, seine Worte aufs Nötigste zu reduzieren, möglichst selten und wenig zu sprechen. Und irgendwann verstummte er gänzlich, sprach kein Wort mehr. Wenn es nicht anders ging, schrieb er kurze Sätze auf einen Notizblock, den er bei sich trug, doch ansonsten schwieg er. Seither ist er allein geblieben, ohne Freunde, ohne Menschen, die ihm nahe sind. Er zog sich zurück und verwehrte anderen die Chance, in ihm einen Mann zu erkennen, der geschätzt oder gar geliebt werden könnte. Er hörte auf, sein Gesicht zu zeigen. Er hörte auf, seine Geschichte zu erzählen. Er hüllte sich in Schweigen. Und irgendwann erfror er in der einsamen Kälte und wurde zu Stein.
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Nathalie drückt die Zigarette am Geländer aus, geht zurück ins Wohnzimmer, nimmt die Figur wieder aus dem Regal, dreht sie erneut zwischen ihren Fingern. Sie hat ihn erschaffen, diesen Mann in ihren Händen, doch sie kennt ihn nicht. Sie versucht, seine Geschichte zu erzählen, aber es gelingt ihr nicht, er bleibt fremd, bleibt nur ein Stück Ton, einst formbar, nunmehr hart und unbeweglich geworden. Langsam schüttelt sie den Kopf und atmet lautstark aus. Es ist die falsche Geschichte, sie passt nicht. Was ist man, wenn man ohne Geschichte ist?
Sie hält die Figur des kleinen Mannes vor ihre Augen, blickt ihm in das winzige Gesicht, in welchem sich die Augen höchstens erahnen lassen. Sie dreht den drahtigen Körper hin und her, betrachtet ihn von allen Seiten. Erneut versucht sie, den Mann zu charakterisieren, ihm Eigenschaften zu geben, doch wiederum scheitert sie. So wie jede Figur eine passende Geschichte braucht, denkt Nathalie, so braucht auch jede Geschichte eine passende Figur. Womöglich ist es nicht die Geschichte, die nicht stimmt. Vielleicht ist es die richtige Geschichte. Vielleicht ist der Mann die falsche Figur. Passt nicht zur Geschichte. Passt nicht zur Erzählung. Passt nicht zur Welt, die sich Nathalie ausgemalt hat. Abermals legt sie die Figur in ihre Handfläche, ballt die Hand zur Faust und führt sie zu ihrem Gesicht, atmet tief ein. Dann holt sie aus und schleudert die Figur an die Wand. Der Aufprall ist beinahe stumm, eine kleine akustische Irritation, mehr nicht. Nathalie starrt auf die einzelnen Teile auf dem Boden, als würde sie darauf warten, dass sich alles wieder zusammenfügt.
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Vera klappt ihren Laptop zu und lässt die Hände auf dem Deckel liegen, die Finger gespreizt. Sie schließt die Augen und versucht, sich Nathalie vorzustellen. Sie denkt sich eine junge Frau, mit rötlich-braunen Haaren und vollen Lippen, mit braunen Augen und einer tätowierten Taube auf dem Unterarm. Eine Individualistin, unangepasst und starrsinnig, mit großer Sehnsucht in sich und ebenso großer Ungewissheit, wonach sie sich überhaupt sehnt. Sie skizziert ein Leben, eine Vergangenheit, einen Hintergrund, sie baut ein Konstrukt, legt Balken in die Zeit. Sie fabuliert, wie sie häufig fabuliert hat, bastelt die Figur Nathalie aus einzelnen Versatzstücken zusammen; sie entwickelt ein Gespür, ein Gefühl für diese Person. Vera presst die Augen heftiger zusammen und versucht, Nathalie noch näher zu denken, ihr Antlitz direkt vor sich zu sehen. Sie blickt ihr ins Gesicht, doch da ist kein Gesicht zu sehen, nur unklare Konturen und verschwommene Formen. Die braunen Augen, sie sind nicht da, nichts ist da; keine Poren, keine Falten, nicht einmal ein Nasenloch, auch kein Mund.
Sie hat Nathalie erschaffen, doch sie kennt sie nicht. Vera versucht, ihre Geschichte zu erzählen, aber es gelingt ihr nicht, sie bleibt fremd, bleibt nur ein Entwurf, blutleer und statisch. Langsam schüttelt sie den Kopf und atmet lautstark aus. Einen Moment lang ist sie versucht, ihren Laptop zu greifen und an die Wand zu schleudern, doch sie besinnt sich, weiß um das Geld, das sie für ihn gezahlt hat. Vera schlägt ihre Faust auf den Tisch, dann nochmals, und nochmals. Es ist das falsche Gesicht, es ist die falsche Geschichte, sie passt nicht.
Gegen Mitternacht steigt Vera erneut auf die Dachterrasse. Zündet sich die nächste Zigarette an, während vor ihr die Stadt allmählich ruhig und kalt wird. Unten auf der Straße geht ein großer, schmaler Mann vorüber, sein Kopf hängt seltsam schlaff hinab, als wäre der Hals ausgeleiert. Vera ist versucht, ihm etwas zuzurufen, nur um herauszufinden, wie seine Stimme klingt. Doch sie bleibt stumm, bläst lediglich den Rauch hinaus in die Nacht. Sie fokussiert auf die Glut an der Spitze ihrer Zigarette und beißt auf ihre Unterlippe.

Eine Figur in einer Figur in einer Figur. Sehr cool. Hat was vom langsamen Aufdröseln einer Matrjoschka-Puppe…
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen, fürs Mit-Aufdröseln und für deine Worte!
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genial! diese doppelte „Erfindung“ von zwei Gestalten, die eine Erzählung suchen, die eine Meisterin der anderen und doch wieder nicht, denn die Ditte, am wenigsten wahrscheinliche Figur, imaginiert und verworfen von der zweiten Figur, wird zum lebendigen Menschen. Und auch wieder nicht, denn niemand kann der Fiktion entrinnen – der Geschichte, die er über sich selbst und die anderen erzählt. Toll.
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Vielen lieben Dank für diesen wunderbaren Kommentar und für das Eintauchen in die verschiedenen Figurenwelten!
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Toller Text. LG
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Vielen lieben Dank!
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