Sie waren dir stets dicht auf den Fersen, waren direkt hinter dir, es waren Männer ohne Gesichter, böse Männer, sie wollten dich, sie wollten dich kriegen, und du hattest keine Ahnung, warum sich dich verfolgten, aber du bist gerannt, so schnell wie möglich, wahrscheinlich noch schneller, und du bist jedes Mal aufgewacht, bevor sie dich erreicht hatten, und dann lagst du in deinem Bett in deinem Kinderzimmer und hast in die Dunkelheit geatmet und dich von einer weiteren Wiederholung dieses Alptraums erholt, der eigentlich gar nicht sonderlich beängstigend war.
Wahrscheinlich hast du dich schon damals gewundert, warum sich die Szene jedes Mal am gleichen Ort abspielte, in und neben der großen Fabrik, die in der Nähe deines Hauses stand, doch hinterfragt hast du es nicht, und wenn der Tag hell und freundlich war, bist du ohne Angst in die Fabrik gegangen, schließlich arbeitete dein Vater dort und auch viele Väter und Mütter und andere Menschen aus der Nachbarschaft. Der Geruch war intensiv, er stammte wohl von den Maschinen, vom Öl, vom Schweiß der Männer und Frauen, von Zigaretten und Kaffee, und eigentlich war er ziemlich eklig, der Geruch, doch du hast ihn geliebt, wie du auch die seltsamen hohen Kunststofftüren geliebt hast und die Gabelstapler mit den kleinen Ledersesseln und die verschiedenen Flecken auf dem Boden und den Lärm der Maschinen und die Arbeitskleider, die hier und dort an Haken hingen. Die Fabrik war eine eigene Welt, eine wunderliche Welt, und auch wenn du schon damals wusstest, dass du nie in einer Fabrik würdest arbeiten wollen, fühltest du eine unbestreitbare Verbundenheit mit jenem Ort, eine Zugehörigkeit. Wenn du von deinem Zuhause geredet hast, dann war die Fabrik stets in deinem Kopf, nicht aber die Sägerei und auch nicht das kleine Möbelhaus und schon gar nicht die seltsame Reinigungsfirma, obwohl die alle nicht weiter weg von deinem Haus lagen als die Fabrik. Sie war ein Teil deiner Welt, nicht nur wegen dem Vater und den anderen Elternteilen und sonstigen Leuten aus der Nachbarschaft, sondern auch wegen dem seltsamen Geruch und wegen dem hohen Kamin und wegen den vielen Lastwagen, die manchmal vor dem großen Tor warteten, und ja, auch wegen dem Alptraum, den du erst losgeworden bist, als du von dort wegziehen musstest, in eine andere Welt, in der es nicht mehr nach Öl und Schweiß roch und kein Kamin in die Höhe ragte.
Manchmal hast du danach an den Alptraum gedacht und dir irgendwann die Erklärung zurechtgelegt, dass er dir wohl deshalb keine allzu große Angst einjagte, weil er sich dort abspielte, wo du dich wohl und zugehörig fühltest, dort, wo du zu Hause warst, und obschon die Männer, die dich verfolgten, durch und durch böse waren, konnten sie dir nichts tun, denn in und neben der Fabrik warst du in Sicherheit.
Später, wenn du an jenem Ort vorbeigekommen bist, brachte der Anblick der Fabrik dein inneres Gefüge kurzzeitig ins Wanken, Wehmut durchströmte dich, und du hast dir eingebildet, den Geruch von Öl und Schweiß und Zigaretten und Kaffee in der Nase zu haben. Irgendwann, noch viel später, musste die Fabrik schließen, doch zu jenem Zeitpunkt war die Wehmut bereits stark abgeklungen, du konntest dem unaufhaltsamen Lauf der Zeit nur ein Schulterzucken entgegensetzen.
Heute steht dort ein Supermarkt, und natürlich ist das ein Klischee, eine abgenutzte Symbolik, der Konsum, der die Kindheit frisst, die Transformation vom unbezahlbaren Wert der eigenen Geschichte zur Tiefkühlpizza im Angebot. Doch hinter dem Klischee ragt noch immer der Kamin in die Höhe, da sind Flecken auf dem Boden und Arbeitskleider an den Haken. Und selbst der Duft der besten Tiefkühlpizza ist reizlos im Vergleich zum Geruch der Fabrik.
Der Alptraum liegt hinter dir. Die bösen Männer haben dich nie einholen können. Trotzdem bist du erwischt worden.

Großartig! 🙂
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Dankedankedanke!
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