Er habe Mundgeruch, murmelt sie mit belegter Stimme, ein bisschen, oder vielleicht auch ein bisschen mehr als nur ein bisschen. Mehr sagt sie nicht, sie schläft schon halb, als sie ihm diese Erkenntnis mitteilt, und einige Sekunden später schläft sie wohl ganz, denn ihr Atmen verändert sich, wird regelmäßiger. Eigentlich ist es nett, dass seine Frau ihm vom Mundgeruch erzählt. Es ist informativ, denn zwar war ihm durchaus bewusst, dass er nicht gefeit sein würde vor derartigen olfaktorischen Phänomenen, doch dass sie es nun in dieser Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht hat, lässt ihn erschaudern. Er erinnert sich an eine Szene aus einem Film. Darin hält sich ein alter Mann seine hohle Hand vor das Gesicht, atmet durch den Mund aus und durch die Nase ein und sagt dann, dass er den Atem eines toten Mannes rieche. Er weiß nicht mehr, wie der Film heißt oder wovon er handelt, kann sich auch nicht an den Schauspieler erinnern, doch so geht es ihm mit den meisten Filmen und Schauspielern, mit Büchern und Ereignissen, sogar mit erlebten Situationen mit Menschen, die ihm eigentlich wichtig sind. Das, was war, bricht immer mehr weg. Er hält sich ebenfalls seine hohle Hand vor das Gesicht, atmet durch den Mund aus und durch die Nase ein. Der Geruch lässt ihn zusammenzucken. Seine Frau hat recht, das ist ihm klar. Nicht ganz klar ist ihm, ob er riecht, was der alte Mann in jenem Film gerochen hat. Vielleicht ist es nur eine Mischung aus Zahnpasta, Rotwein und Risotto in einem organischen Umfeld, vollkommen normal und nachvollziehbar. Aber vielleicht ist es das auch nicht.
Nach einer Weile dreht er seinen Kopf zur Seite. Die Digitaluhr auf dem Nachttisch sollte ihn eigentlich informieren, wie spät es ist, doch sie zeigt nicht die Zeit, sondern ein Wort. Ende. Er denkt an den Moment, in welchem bei Filmen die Leinwand schwarz wird, bevor der Abspann beginnt. Einige Sekunden lang schließt er die Augen und überlegt, ob es ratsam ist, jetzt einzuschlafen. Der Schlaf könnte ein Falle sein, er könnte sich verirren und nicht mehr zurückfinden. Rasch schiebt er die Lider wieder auseinander und blinzelt erneut in die Dunkelheit. Auf der Digitaluhr ist immer noch das gleiche Wort zu lesen, nun rot und nicht blaugrün wie zuvor, was ihn überraschend wenig irritiert. Umso mehr erschrickt er, als er die Umrisse einer Gestalt erkennt, die am Bettende steht. Ein kurzer prüfender Blick aus den Augenwinkeln versichert ihm, dass seine Frau nach wie vor neben ihm liegt, schlafend und ruhig atmend. Das ist gut. Sie kann sich ausruhen, sie ist in Sicherheit. Gleichzeitig ist es nicht gut, denn abgesehen von seiner Frau sollte niemand um diese Zeit im Schlafzimmer stehen, schon gar nicht am Ende des Bettes. Er bewegt seinen Kopf, ganz langsam, ganz vorsichtig. Die Gestalt hebt sich nur schemenhaft ab, er kann ihre Form nicht genau erkennen, die Konturen sind unklar, doch es ist eindeutig eine sehr große Gestalt, viel grösser als jeder normale Mensch, und er ist erstaunt, dass die Gestalt überhaupt hineinpasst in dieses Schlafzimmer mit seiner niedrigen Raumhöhe. Er möchte Hallo flüstern, doch er kommt sich dumm vor und beißt stattdessen auf seine Unterlippe. Er überlegt, das Licht einzuschalten, doch etwas hält ihn zurück, und er weiß, dass es Angst ist, die ihn zögern lässt, doch er will nicht einmal sich selbst eingestehen, dass er Angst hat. Allmählich lässt er seinen Kopf wieder ins Kissen sinken und zieht dann die Decke über sein Gesicht, bis sein Körper komplett unter ihr begraben liegt.
Er erinnert sich daran, wie er als Kind immer unter der Decke lag, umgeben von Wärme, bisweilen lesend im Licht einer Taschenlampe, manchmal aber auch vollkommen im Dunkeln und absolut ruhig. Irgendwann wurde jeweils die Luft zu dick zum Atmen, dann schlug er die Decke zurück und empfing die angenehme Kühle, fühlte sich erlöst. Er wäre gern wieder ein Kind, und sei es nur, um sich der bevorstehenden Erlösung sicher sein zu können. Doch er ist kein Kind mehr. Er ist ein alter Mann, der unter einer Decke steckt, in einer kleinen, weichen, warmen Welt. Und immer mehr füllt sich diese kleine, weiche, warme Welt mit seinem Atem, mit seinem unterdrückten Schnauben, mit seinem verdammten Mundgeruch. Immer knapper wird die Luft, immer heißer wird ihm, er wird unruhig, spürt eine leichte Panik in sich aufsteigen. Er zögert den Moment hinaus, so weit wie es nur geht, hält den Lauf der Zeit auf, bis sie beinahe zum Stillstand kommt. Mehr geht nicht, das weiß er. Dann schlägt er die Decke zurück.

So lange er keine Sense im Schattenriss gesehen hat, war es vielleicht doch nicht der Tod.
Lieben Gruß von Clara
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Vielleicht, ja. Schliesslich holt der Tod die Hoffnung ja ganz am Schluss… Vielen Dank dir fürs Lesen und liebe Grüsse zurück…
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Huch, wer steht da am Fußende? Der Tod? Für ihn oder für sie?
Offenes Ende und ich glaube, ER ist es nicht.
Die Gestalt ist verschwunden; vielleicht war es nur der Vorhang, dem es manchmal in der Nacht zu langweilig wird und er wandert zum Bett… um zu erschrecken…
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Tja, vielleicht ja wirklich nur der Vorhang. Oder auch nicht. Wer weiss? 😉
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen, liebe Bruni! Und herzliche Grüsse…
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🙂
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Nach dem Lesen so viele Überlegungen… Ein schlechter Traum? Hypnagogie? Oder wirklich der Tod? Ich geh mir mal die Zähne putzen… 😉
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Das ist schön, dass da danach viele Überlegungen sind, vielen Dank! (Und dann viel Erfolg beim Zähneputzen.)
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spooky und seeehr spannend. Stand da wohl der Baphomet?
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Aber gerne👍
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