Dass es ein Fehler sein würde, wusste sie schon, bevor sie ihn machte, aber diese Gewissheit hat sie nicht davon abgehalten. Man sagt, dass man aus Fehlern lernen könne, doch bisher fühlt sie sich nicht klüger. Nur verloren. Und schwankend. Und fremd. Immerhin ist sie frisch geduscht, die Seife im Hotel duftet, wie Seife in Hotel früher geduftet hat.
Manchmal macht ihr Bruder einen Witz, und sie lacht, obwohl sie den Witz gar nicht lustig findet, sondern nur, weil sie ihren Bruder liebt. Dann wieder zieht sie ein Kleid an, obwohl sie gar keine Lust hat und ihr kalt ist, nur weil sie glaubt, dass sie ihrer Weiblichkeit verpflichtet sei. Bisweilen sagt sie, dass sie keine Schokolade mag, obwohl sie Schokolade liebt und nur nicht zunehmen will. Sie weiß nicht, ob sie sich dabei nur ein wenig beugt oder sich verbiegt.
Sie ist in einer anderen Stadt, ist mit ihrem kleinen Nissan genau 178 Kilometer gefahren, um von ihrer Wohnung zu diesem Hotel zu gelangen, doch die 178 Kilometer bieten keinen Anhaltspunkt, auch nicht die drei Stunden, die sie für die Fahrt gebraucht hat. Dimensionen sind bloße Theorie. Alles liegt ausgebreitet in den Falten und Furchen der Zeit. Ein Konglomerat aus Gedankenfetzen, die sich dann doch nicht zu greifbaren Entwürfen einer möglichen Realität vermengen.
Nur ein Ausflug, nur eine kurze Reise, nur ein paar Tage, nur ein wenig Zeit für mich, nur ein wenig Ruhe, das hatte sie zu Olaf gesagt, zu jenem Olaf, der hin und wieder sagt, dass er sie liebt, und in jenen Momenten klingt es jeweils schön und echt, manchmal aber auch einstudiert und leer, und sie ist nicht sicher, welche Wahrnehmung Wahrheit ist. Olaf hatte mit den Schultern gezuckt und sich ein Bier geholt. Sie mag nicht, wenn Olaf Bier trinkt, denn wenn Olaf Bier trinkt, rülpst er, und dann schleicht sich Ekel in die Unsicherheit.
Im Hotelzimmer ist es still, und wenn sie selbst ein Geräusch macht, verschwindet es sogleich im dicken Flor des Teppichs. Sie mag diese Stille, auch wenn sie den Lärm in ihrem Kopf noch lauter dröhnen lässt. Sie summt die Melodie eines Songs, den sie früher mochte, Runaway Train von Soul Asylum. Sie erinnert sich an das Musikvideo zum Song, in welchem Bilder und Namen von vermissten Kindern gezeigt wurden. Als sie selbst ein Kind war, wollte sie nie weglaufen, wollte nie verschwinden. Aber sie fragte sich, was geschehen müsste, dass sie es tun würde. Heute weiß sie nicht, ob eines der Szenarien, die sie sich damals ausgemalt hatte, tatsächlich eingetreten ist.
Hin und wieder wirft sie einen Blick aus dem Fenster und fragt sich, was passieren würde, wenn er jemanden erschlagen würde, der Blick, sie müsste ihn nur heftig genug werfen, dann wäre er tödlich. Doch eigentlich will sie niemanden erschlagen. Sie mag Menschen, auch wenn sie ab und zu nichts mit ihnen anzufangen weiß. Als sie Olaf einmal erzählte, dass sie gerne die Fähigkeit besitzen würde, sich bei Bedarf in eine Ente oder ein Reh zu verwandeln, um dem Menschsein vorübergehend entfliehen zu können, lachte er nur kurz und nervös auf, schaute sie fragend an, holte sich dann ein Bier und rülpste.
178 Kilometer. Als sie sich die Distanz erneut vor Augen zu führen versucht, muss sie einsehen, dass diese 178 Kilometer nicht ausreichen. Wenn sie aus dem Fenster schaut, sieht sie zwar in aller Deutlichkeit die Fassaden und Gemäuer dieser fremden Stadt, aber da ist keine Klarheit. Sie wollte etwas Definitives, etwas Endgültiges, eine Zäsur, doch bisher sind da nur der weiche Teppich und die Seife und ihr Nissan auf dem Hotelparkplatz.
Sie lässt ihre Hände über den weichen Stoff des Hotelbademantels gleiten. Sie mag, wie sich ihr Körper darunter anfühlt. Ein weiteres Mal taucht der Gedanke auf, dass es ein Fehler war, hierherzukommen, doch dieses Mal ist sie nicht sicher, ob dies tatsächlich stimmt. Vielleicht muss sie hier in diesem Hotelzimmer noch nicht klüger sein. Vielleicht muss sie dort draussen vor dem Fenster keine Antworten finden. Vielleicht braucht es nicht 178 Kilometer. Sondern 356 Kilometer.
Auf dem großen Bett liegt ein Stück Schokolade, hübsch eingepackt, eine kleine Aufmerksamkeit des Hotels. Sie hatte es eigentlich zur Seite legen und es schlussendlich zurücklassen wollen, doch nun hebt sie es hoch, packt es langsam aus und schiebt sich die Schokolade in den Mund. Als sich der süße Geschmack allmählich entfaltet, lächelt sie.

Falls dieser Olaf noch was anderes kann außer Biertrinken und rülpsen, darf er bleiben, falls es eine Fortsetzung bei 356 Kilometern gibt. – Ansonsten, lass ihn unter den Tisch fallen, dort kann er getrost für sich alleine rülpsen.
Schöne Tage und tschüss sagt Clara
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Er wird sich nach den 356 Kilometern ziemlich viel Mühe geben müssen, der Olaf…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte. Ich wünsch dir ebenfalls schöne Tage….
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Gerne, schöne Weihnachten!
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Dir ebenfalls!
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Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr.
Ich wünsche euch frohe und besinnliche Weihnachten. Bleibt Gesund und Munter. Freut euch über jeden einzelnen Tag und denkt nicht an Morgen. Denn jeder Tag ist ein Geschenk. Trinkt, Lacht und beschenkt euch reichlich! Wir haben es uns verdient.
Lasset die Korken fliegen und die Gläser klirren. Fühlt euch gesegnet in dieser schwierigen Zeit!
Ich wünsche mir für euch, dass ihr voller Freude, Zuversicht, Geduld und Mut in ein wunderschönes neues Jahr Startet. Mögen sich all eure Wünsche erfüllen und eure Sorgen verblassen. Kommt gut und gesund ins neue Jahr.
Mit gesegneten Grüßen
Miss Katherine White
Work – Life – Balance
https://www.miss-katherine-white.com
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Danke. Wir Kerle sollten aufpassen, nicht so wie der Olaf zu werden.
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Ein bisschen aufpassen schadet wohl kaum, ja… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Ach ich mag es einfach sehr, wie du ganze Lebensgeschichten in ein paar Absätze packen kannst. Frage mich, wie die Geschichte wohl ausgehen wird …
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Und ich mag Kommentare wie diesen… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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