Er steht am Bahnhof und versucht, die Plakate an den Wänden zu entziffern, doch da ist nichts, woran er sich festhalten könnte. Eine leicht bekleidete Frau sieht ihn von einem der Plakate an, in ihrem Blick liegt etwas Forsches und Forderndes, vielleicht auch Aufmunterndes. Neben ihrem Kopf steht das Wort Brulguama! geschrieben, in großen Lettern und mit einem Ausrufezeichen am Ende, doch er weiß nicht, was das Wort bedeutet und was die leicht bekleidete Frau ihm damit sagen will. Er hofft, dass es etwas Gutes ist, denn sie ist hübsch, die Frau.
An einem Kiosk kauft er ein Törtchen, das in Plastikfolie eingepackt ist und ähnlich aussieht wie jene Spezialität seiner Heimat, die seine Mutter häufig gebacken hat. Während er in seiner Tasche nach Münzen kramt, überlegt er, ob er die Kioskfrau fragen soll, ob sie wisse, wo er sich melden müsse, doch er kennt die richtigen Worte nicht, also bleibt er stumm, starrt schräg nach unten auf ein Hochglanzmagazin, auf dessen Titelseite eine andere leichte bekleidete Frau abgebildet ist und weitere Wörter stehen, die er nicht versteht.
Das Törtchen schmeckt ganz anders als jenes Gebäck aus seiner Kindheit, eigentlich schmeckt es nach nichts, es ist trocken und brüchig, doch er isst es dennoch, denn er ist hungrig. Er sieht einen Mann in Uniform und zuckt kurz zusammen. Er mag keine Uniformen. Dennoch geht er zu jenem Mann hin; sein Gesicht sieht relativ freundlich aus und vielleicht kann er ja helfen. Doch als er dem Uniformierten zu erklären versucht, dass er das Amt sucht, um sich einschreiben zu können, schaut ihn dieser nur verständnislos an und zuckt mit den Schultern.
Am Abend kommt er erneut an der Plakatwand am Bahnhof vorbei, sieht die leicht bekleidete Frau, ihren Gesichtsausdruck und das Wort Brulguama! Er fragt sich, wie die Frau heißt und was sie tut, wenn sie nicht gerade von Plakaten schaut. Er setzt sich auf den Boden und stellt einen leeren Plastikbecher vor sich hin. Ein paar Leute lassen Münzen hineinfallen. Als es dunkel wird, geht er in den nahen Wald, bringt aber kaum ein Auge zu. Er hört Geräusche im Wald. Irgendwann hören die Geräusche auf, doch das macht es nicht besser.
In der Stadt sieht er einen Mann, der ähnlich aussieht wie sein Onkel. Natürlich ist es nicht sein Onkel, aber er hofft, dass der Mann ihn verstehen kann. Er hofft vergeblich, der Mann spricht ebenfalls eine fremde Sprache. Einige Wörter kann er trotzdem zuordnen, und als der Mann mit dem Arm in eine Richtung zeigt, eilt er los, ohne zu wissen, wohin und wie weit er gehen soll. Irgendwann kommt er wieder am Bahnhof an und fragt sich, wo er falsch abgebogen ist. Er setzt sich wieder auf den kalten Asphalt, stellt den Plastikbecher vor sich hin. Erneut lassen einige Passanten Münzen hineinfallen. Irgendwann tritt ein Mann zu ihm hin, hebt den Plastikbecher hoch und rennt davon.
Vor einem kleinen Laden steht eine Theke, aus einem Metallkorb ragen lange Brote. Als niemand hinsieht, greift er sich eines dieser Brote und läuft los, so schnell, wie seine müden Füße es zulassen. Erst als er den Wald erreicht, sieht er sich um. Niemand ist ihm gefolgt. Er lässt sich zu Boden sinken und beißt in das Brot. Nach der Hälfte möchte er eigentlich aufhören, doch er hat Angst, dass ihm das Brot in der Nacht abhandenkommt, also isst er es vollständig auf. Die Geräusche im Wald werden von einem heftigen Wind geschluckt, der in den Blättern rauscht.
Am nächsten Morgen geht er erneut in die Stadt. Während er ratlos vor der Plakatwand steht, sieht er, wie eine alte Frau ihn ansieht. Er versucht zu lächeln, und sie kommt auf ihn zu. Als sie in einer unbekannten Sprache mit ihm redet, schüttelt er den Kopf. Die Frau blickt sich kurz um, dann redet sie weiter, in einer anderen Sprache – in seiner Sprache. Eine merkwürdige Euphorie steigt in ihm auf, und er muss sich zurückhalten, um die Frau nicht zu umarmen. Er fragt sie, was er tun und wohin er sich wenden soll, und die Frau erklärt ihm, wo er das Amt findet, bei welchem er sich einschreiben muss.
Bevor er sich zum Amt aufmacht, zeigt er auf die Plakatwand und fragt die Frau, was das Wort Brulguama! bedeutet. Die alte Frau lächelt. Es bedeutet: Lebe! Die Frau erklärt, dass es sich beim Plakat um eine Werbung für eine Versicherung handle, doch er versteht nicht genau, was damit gemeint ist. Nachdem er sich von der alten Frau verabschiedet hat, murmelt er das Wort einige Male vor sich hin, um zu hören, wie es klingt. Brulguama. Brulguama. Brulguama. Dann zuckt er mit den Schultern und geht los.

Es wäre so schön, wenn das nur eine Geschichte wäre – aber leider ist es für Tausende von Flüchtlingen bitterste Realität.
Und die reichen Deutschen – und das sind fast alle – teilen nicht so gern und haben Angst um ihre Pfründe.
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Hmmja, die Angst um Pfründe, die Angst im Allgemeinen, sie zeigt sich an sehr vielen Orten und schaufelt tiefe Gräben… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse!
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Toll beschrieben wie es sich anfühlt in einer Welt ohne bekannte Sprache. Hier, wo ich lebe, fragen mich öfters mal Leute nach dem Weg. Kurden und Syrer, letztens eine Ceylonesin. Unser beider Englisch war so brüchig wie Brüsseler Klöppelspitze, doch darunterher lugte die Sympathie und es dauerte alles zwar seine Zeit, doch die Momente in denen wir nach erklärenden Hand- und Fußgesten suchten, lachten wir uns an. Ihr goldener Schneidezahn glitzerte dann so in der Sonne.
Sie hatte graue Strähnen in den Haaren und genau so einen Chinesenzopf wie ich. Dann verglichen wir die Längen und grinsten wieder, jeder in seiner Sprache. Während der Busfahrt fand sie heraus, dass ich hier schon seit immer lebe und zwei Kids habe und ich fand heraus, dass ihr Sohn mit seiner Frau und ihr hier lebt. Aber noch nicht lange. Ihr Name ist Neeta. Sie hat das Glück dieses Lächelns und das Glück, dass sie von Natur aus ein kontaktfreudiger Mensch ist, der im Handumdrehen Kontakte knüpft. Dein Held ist ein Scheuer und ein Ängstlicher. Man wünscht ihm welche, die für ihn vertraut klingen. Und ich wünsche ihm noch mehr diese, die ihm Lust machen, eine Sprache lernen zu wollen. Um Freunde zu finden.
Ganz lieben Dank. Toller Text…
Sei lieb gegrüßt,
Amélie
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Oh, deine Begegnung mit Neeta, sie klingt sehr wunderbar und bereichernd, dort im Bus und jetzt auch hier. Vielen Dank dir fürs Teilen und Mitteilen!
Ja, Kommunikation kann wohl auch ohne gemeinsame Sprache funktionieren, sofern eine gewisse Offenheit da ist. Aber ohne diese Offenheit ist das Kommunizieren eigentlich selbst dann schwierig, wenn man die gleiche Sprache spricht…
Eine Inspiration zur Text lieferte wohl das wunderbare Buch «The Arrival» von Shaun Tan, das die Geschichte eines Migranten erzählt – und dabei ganz ohne Worte auskommt…
Vielen Dank nochmals und herzliche Grüsse zurück!
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